Der 24. Februar 2022 markiert eine Zäsur. Der großangelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Europa, die Europäische Union (EU) sowie die NATO näher zusammenrücken lassen und zugleich den Blick für eine realistischere Betrachtung der Situation in der Ukraine und der Region, der Herausforderungen durch Russland sowie der gemeinsamen Interessen Europas und der euro-atlantischen Gemeinschaft geöffnet.
Wer heute in die Ukraine reist, wird Zeuge von Pragmatismus und Empathie, die tief unter die Haut gehen: Traurigkeit ob der Opfer und des Leids mischt sich mit Herzlichkeit, Tatkraft sowie Zuversicht. Die Menschen in der Ukraine wissen, wofür sie kämpfen. Experten sprechen von einer „gesamtgesellschaftlichen Verteidigung“: Jeder hilft dort, wo er es am besten kann. Die russische Invasion hat entgegen der Erwartung Vieler und insbesondere des Aggressors das Land nicht gespalten, sondern – wie Umfragen sehr deutlich zeigen – den unbedingten Willen entfesselt, einerseits die Identität als ukrainische Nation zu verteidigen und andererseits Teil von EU und NATO zu werden.
Zugleich herrscht trotz Luftangriffen geradezu „Normalität“. Seit Kriegsbeginn haben sich allein in Kyjiw (Kiew) mehr als 500 neue ausländische IT-Firmen angesiedelt, viele betreiben angesichts der sehr guten Ausbildung und der hohen Digitalisierung im Land Entwicklungszentren. Unter dem Druck des Krieges hat die Ukraine auch die Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen auf ein neues Niveau gehoben. 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung benutzen eine App mit dem Namen Diia, mit der sie Behördengänge online erledigen können, darunter beispielsweise die Steuererklärung oder die Gründung eines Unternehmens. 50 weitere Funktionen stehen bereit: vom elektronischen Pass und der Geburtsurkunde bis hin zu Abstimmungen zu Fragen der Demokratie auf lokaler Ebene. Eine ganze Reihe von Staaten plant, die App einzuführen. Innovation und Resilienz als Antwort auf einen ungewollten Krieg und den Umstand, dass bedeutende Teile der Bevölkerung unter Okkupation leben.
Die ukrainische Widerstandskraft ist keine spontane Reaktion auf die großangelegte russische Invasion, sondern Teil des Grundverständnisses der Menschen als ukrainische Staatsbürger. Sie steht im direkten Zusammenhang mit dem demokratischen Freiheitsgedanken und dem Blick nach Europa. Die Bürgerproteste der Orangenen Revolution von 2004 und der Euromaidan 2013 und 2014 als Massenphänomene, Momente der Identitätsbildung und kollektiven Erinnerung haben eine lebendige proeuropäische Zivilgesellschaft herausgebildet, die heute das stabile Fundament der modernen Ukraine bildet.
Hinzu kommt eine erfolgreiche Dezentralisierungsreform, die auch von der Hanns-Seidel-Stiftung eng begleitet wurde: Die Selbstbemächtigung von Bürgern, das Lösen von Problemen durch positiven Gestaltungswillen vor Ort sind Merkmale einer modernen Demokratie. Dennoch war für viele Beobachter die Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine am 23. Juni 2023 eine überraschende Entwicklung, die natürlich eng mit dem geopolitischen Kontext verknüpft ist. Über die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen entscheiden nach der Empfehlung der Kommission vom 8. November 2023 die Mitgliedstaaten Ende des Jahres. Schon jetzt zeigt sich jedoch, dass die Ukraine in jüngerer Zeit bei der Reformagenda unter der Belastung des Krieges Beindruckendes geleistet hat. Die Ukrainer brauchen die Vision einer besseren Zukunft, um den Kampf gegen die russische Invasion durchstehen zu können.
Hoffnungen auf ein kurzfristiges Ende des Krieges sind derzeit unrealistisch angesichts der Tatsache, dass Moskau den Krieg als ein Nullsummenspiel sieht und glaubt, den Krieg gewinnen zu können. Mehr als bislang müssen von der EU und Deutschland die Dinge vom Ende gedacht, konkrete Ziele gesetzt und die entsprechenden Mittel hierfür bereitgestellt werden. Die aktuelle Unterstützung für die Ukraine ist zu wenig, um den Krieg zu gewinnen, und zu viel, um den Krieg zu verlieren. Es besteht die Gefahr, dass die USA, Europa und Deutschland in der Ukraine-Frage nun angesichts von Ermüdungserscheinungen und der Zuspitzung im Nahen Osten in einen Winterschlaf verfallen.
Die Ukraine verfolgt zwei miteinander verwobene Strategien: einerseits eine Gegenwartsstrategie, bei der es darum geht, die Invasion zurückzuschlagen und die vertraglich garantierten Grenzen der souveränen Ukraine von 1991 zurückzugewinnen. Und andererseits eine europäische und transatlantische Zukunftsstrategie, die auf einen Vierklang von EU-Beitrittsprozess, transatlantischer Integration, Reformen und Wiederaufbau besteht.
Auch wenn auf Seiten des Westens und der EU aktuell Sofortmaßnahmen, die das finanzielle Überleben des ukrainischen Staates sicherstellen, richtigerweise Priorität genießen, wird der Wiederaufbau eher früher als später auf der Tagesordnung stehen. Von einem „Jahrhundertprojekt“ ist hier die Rede und auch zum Marschall-Plan für die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg werden Parallelen gezogen. Richtig gemacht bietet ein solcher Plan nicht nur große Chancen für die Ukraine, sondern für ganz Europa. Auch in diesem Sinne ist eine engere Flankierung dieses notwendigen Vorhabens im Rahmen des auf viele Jahre angelegten Europäischen Einigungsprozesses sinnvoll. Beides gehört zusammen.
Die Kosten einer weiteren und verstärkten Unterstützung der Ukraine sind zweifellos hoch. Noch höher wären jedoch die späteren Kosten, es jetzt nicht zu tun.