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Politischer Sonderbericht
Wahl der Verfassungsräte in Chile

Autor: Jorge Sandrock
, Nico Göricke

Nachdem der vorhergehende Verfassungsprozess Chiles mit der Ablehnung des Verfassungsvorschlags in einem Plebiszit im September des Jahres 2022 endete, begann nun ein neuer Prozess.

Die Wahl der Verfassungsräte am 7. Mai 2023 markierte drei wichtige Ereignisse, den Aufstieg der Republikanischen Partei, eine neue herbe Niederlage für die Regierung und offensichtlich eine neue demokratische Herausforderung: ungültige Stimmen.

 

Gescheiterter Verfassungsprozess und neuer Impuls

Die Chileninnen und Chilenen hatten im Referendum am 4. September 2022 den von einem Verfassungskonvent erarbeiteten Textentwurf für eine neue Verfassung deutlich abgelehnt. 61,86 Prozent der Wähler sprachen sich gegen die Vorlage aus. Dieses Referendum galt als Zäsur des politischen Klimas in Chile seit den Sozialprotesten im Jahr 2019. Die Zeit ist geprägt von umfangreichen Sorgen der Chilenen aufgrund der sich verschlechternden Wirtschaft und der mangelnden öffentlichen Sicherheit sowie auch von einer generellen Politikverdrossenheit.

Anschließend diskutierten die chilenischen Parteien im Kongress, wie ein neuer Verfassungsprozess ablaufen könnte. Im Dezember 2022 einigten sie sich schließlich nach intensiven Verhandlungen auf einen neuen Verfassungsprozess, der zu einer moderateren und realistischeren Verfassung als die abgelehnte führen sollte. Um dies zu garantieren, verabschiedete der Kongress einen Zwölf-Punkte-Rahmen als Grundlage für die neue Verfassung (Ley 21533 zur Verfassungsänderung). Es wurden kontroverse Themen der vorherigen Verfassung entschieden, zum Beispiel, dass Chile ein dezentralisierter Einheitsstaat ist und eine Nation bildet. Auch die grundlegende politische Struktur als Präsidialsystem mit einem zwei Kammern-Kongress, die Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative sowie die Autonomie der Zentralbank, der Wahljustiz, des Rechnungshofes und der Staatsanwaltschaft wird dadurch garantiert.

Zudem wurde Anfang März eine Expertenkommission durch den Kongress eingesetzt, die nach dreimonatigen Verhandlungen bereits einen ersten Verfassungstext vorschlagen soll. Damit sollen technisch-juristische Aspekte des Verfassungsentwurfes garantiert werden. Die eigentliche Kompatibilität des Verfassungsentwurfes mit den Rahmenpunkten und internationalen Verträgen wird von einem weiteren Ausschuss, der sogenannten Kommission für Rechtmäßigkeit „Comisión de Admisibilidad“ kontrolliert.

Am 7. Mai 2023 fand die Wahl einer neuen verfassungsgebenden Versammlung mit 50 Sitzen statt. Sie wird den Verfassungsvorschlag der Experten überarbeiten. Die abschließende Version der verfassungsgebenden Versammlung soll dann im Dezember in einem weiteren Referendum vom Volk angenommen oder abgelehnt werden. Die neue verfassungsgebende Versammlung ist dabei weiterhin paritätisch besetzt.

Die Verteilung der gewählten Parteien bei der Wahl zum chilenischen Verfassungsrat 2023 in Prozent.

Die Verteilung der gewählten Parteien bei der Wahl zum chilenischen Verfassungsrat 2023 in Prozent.

HSS

Überraschende Wahlergebnisse

Die rechte Republikanische Partei Chiles, die sich für die Beibehaltung der Verfassung von 1980 einsetzt, hat am Sonntag, dem 7. Mai, die Wahlen zu den 50 Verfassungsräten mit 35,42 Prozent deutlich gewonnen und wird somit für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung eine Führungsrolle einnehmen.

Die Republikaner erhielten 23 der 50 Sitze, eine Zahl, die ihnen ein Vetorecht bei den Vorschlägen des Verfassungsrates verleiht. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast, der die Partei anführt, geht als großer Gewinner hervor.

Der linke Block unter der Führung des chilenischen Präsidenten Gabriel Boric gewann 16 Sitze mit 28,57 Prozent der Stimmen und der Mitte-Rechts-Block 11 Sitze (Unión Demócrata Independiente 6; Renovación Nacional 4 und Evopoli 1) mit 21 Prozent. Der Mitte-Links-Pakt (Sozialdemokraten und Christdemokraten) gewann keine Sitze.

Die Ergebnisse implizieren, dass die Verteilung der politischen Kräfte im Verfassungsrat diametral entgegengesetzt zum letzten Verfassungskonvent sein wird. Die konservativen Oppositionskräfte stellen eine zwei Drittel-Mehrheit in dem neuen Gremium.

Insgesamt beteiligten sich 12,8 Millionen Menschen an den Wahlen, das sind 84,4 Prozent der 15 Millionen Bürger, die wahlberechtigt waren. Obwohl die hohe Beteiligung dem Wahlprozess große Legitimität verleiht, ist anzumerken, dass 21,53 Prozent keine oder eine ungültige Stimme abgaben. Es handelt sich um den höchsten Prozentsatz seit der Rückkehr der Demokratie im Jahr 1990.

Bereits vor den Wahlen befürchtete man einem hohen Anteil an ungültigen oder Blanko-Stimmen. Allein die ungültigen Stimmen machten 16,98 Prozent aus, hinzu kamen die Blankostimmen mit 4,55 Prozent. Mit insgesamt 21,53 Prozent, zeigte mehr als ein Fünftel der Wähler ihre Ablehnung hinsichtlich des Prozess oder den konkurrierenden Parteienkoalitionen. Es handelt sich um eine Protestreaktion, die Ablehnung des Systems sowie einer Zunahme des Desinteresses und der Apathie gegenüber der Politik.

Die Wahlergebnisse sind überraschend und es stellt sich die Frage, in welche Richtung sich die Politik in Chile in der Zukunft bewegen wird.

Die Wahlergebnisse sind überraschend und es stellt sich die Frage, in welche Richtung sich die Politik in Chile in der Zukunft bewegen wird.

Canva

Eine Chance für konservative Kräfte

Die konservativen Kräfte haben die Möglichkeit, die institutionelle Gestaltung des Landes über Jahrzehnte zu beeinflussen. Die Art und Weise, wie die Republikaner und Chile Vamos (RN, UDI und Evopoli) die zwei Drittel nutzen, die sie im Verfassungsrat besitzen, könnte für die politische Zukunft des Landes von entscheidender Bedeutung sein.

Das Pendel hat sich von links nach rechts bewegt. Unklar bleibt jedoch, was den Sinneswandel ausgelöst hat. Die Linke hatte eine einzigartige Gelegenheit versäumt. Sie dominierte die 2021 gewählte verfassungsgebende Versammlung ohne Gegengewicht und bestand auf einer Neugründung des Landes. Sie erarbeiteten einen ideologisch aufgeladenen Verfassungsvorschlag, der der Mehrheit der Bürger fremd war und daher mit fast 62 Prozent im Referendum vom September 2022 weitgehend abgelehnt wurde. Viele behaupten, dass der Infantilismus einer fiebrigen Linken dem aktuellen Szenario den Weg geebnet hat.

Triumph und Öffnung der Republikaner

Der Erdrutschsieg der Republikaner war der Tatsache zu verdanken, dass sie auf einem Weg und einem Diskurs verharrten, den viele der heutigen Befürworter bis vor Kurzem kritisierten.  Die Republikaner arbeiteten im Stillen daran, ihre Partei zu stärken und sich mit der Welt der Bevölkerung intensiv zu beschäftigen. Dabei tourten sie ohne großes Aufheben durch das Land und befassten sich mit den alltäglichen Problemen der Bürger. Gleichzeitig setzten sie sich für einen Vorschlag ein, der ihre Position als Gegner des Verfassungsprozesses nicht verschleierte. „Chile braucht keine neue Verfassung“, sagte der Republikaner Luis Silva, der Kandidat mit den meisten Stimmen in der Metropolregion, eine Woche vor den Wahlen.

In seiner Rede am Wahlabend legte José Antonio Kast den gewählten republikanischen Kandidaten, engen Mitarbeitern und der Öffentlichkeit nahe, nach dem Wahlsieg nicht überheblich zu werden. Er rief dazu auf, nicht zu feiern, sondern hart an der Ausarbeitung eines guten Verfassungstextes zu arbeiten und parallel weiter an der wirksamen Lösung der „sozialen Notlage“ mitzuarbeiten, die die Bevölkerung betrifft.

Auch der Vorsitzende der Partei, Arturo Squella, trug dazu bei, Bedenken auszuräumen, die einige hinsichtlich des Konglomerats und der Erarbeitung eines annehmbaren Textvorschlags haben, der im kommenden Dezember von der Öffentlichkeit akzeptiert werden kann.

Kast und Squella haben gleichzeitig erklärt, dass parteiisches Verhalten auf Dialog, Gedankenaustausch und der Gestaltung von Vereinbarungen basieren muss, die am Gemeinwohl des Landes orientiert sind. Er hat aber auch zum Ausdruck gebracht, dass die Aufgabe der Republikaner immer auf Grundsätzen und Überzeugungen beruhen muss, die nicht aufgegeben werden können.

Chile steht vor einer kritischen Phase, und viele setzten ihre Hoffnung auf die Republikaner. Sie werden jedoch nicht die einzigen Verantwortlichen sein und der Erfolg dieses neuen Prozesses wird letztlich auch von der Haltung der linken Kräfte abhängen.

Kontakt

Projektleitung: Jorge Sandrock
Chile
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