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Referendum in Chile
Neue Verfassung wurde abgelehnt

Autor: Jorge Sandrock

Eine deutliche Mehrheit hat in einem Referendum gegen den Entwurf der neuen Verfassung gestimmt. Das Ergebnis ist eine bittere Niederlage für die Regierung.

Der Palacio de La Moneda ist heute Amtssitz des chilenischen Präsidenten

Mit deutlicher Mehrheit haben die Chileninnen und Chilenen in einem Referendum den Entwurf für eine neue Verfassung abgelehnt.

vale_t; hss ; istock

Die Chileninnen und Chilenen haben im Referendum am 4. September 2022 den vom Verfassungskonvent erarbeiteten Textentwurf für die neue Verfassung deutlich abgelehnt. 61,86 Prozent der Wählerinnen und Wähler sprachen sich gegen die Vorlage aus.  

Für die Option des Referendums „Ablehnung“ wurde in allen Regionen des Landes mehrheitlich gestimmt; sogar in der Hauptstadt, einer traditionellen Hochburg der linken Kräfte waren es 55 Prozent. Die Option „Zustimmung“ gewann lediglich in acht von 345 Gemeinden des Landes.

Um die Legitimität des Prozesses der Verfassungsänderung zu gewährleisten, war sogar eine Wahlpflicht für das Referendum eingeführt worden. Damit wurde mit 85,7 Prozent die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte des Landes erreicht. In den vergangenen Jahrzehnten lag die Beteiligung bei Wahlen stets nur zwischen 35 und 50 Prozent.

Das Ergebnis bedeutet einen harten Schlag für die Regierung von Präsident Gabriel Boric, die alles auf einen Sieg der Option „Zustimmung“ gesetzt hatte. Im Wahlkampf war seiner Regierung wiederholt vorgeworfen worden, die gesetzlich vorgeschriebene Neutralität aufgegeben und offen interveniert zu haben.

Jetzt beginnt eine neue Phase, in der die Exekutive versuchen wird, den Prozess für eine neue Verfassung am Leben zu erhalten, aber es wird für sie schwierig, ihre Ideen bzw. einen Fahrplan durchzusetzen. In der Nacht der Volksabstimmung kündigte der Präsident die Einberufung der höchsten Autoritäten des Parlaments an, um so schnell wie möglich erneut den Prozess für eine neue Verfassung voranzutreiben.

Des Weiteren kündigte Boric Anpassungen in der Regierung an. Eine Erneuerung des Kabinetts ist notwendig, um der Regierung wieder Auftrieb zu geben, die nach weniger als sechs Monaten an der Macht nun eine herbe Niederlage erlitten hat. Boric versprach Neuerungen. Das bedeutet den Abgang seiner vertrautesten Minister. Vermutlich wird er zwei seiner Weggefährten und einen Teil der neuen linken Generation auswechseln, die er in seinem engsten Kreis installiert hatte: die Innenministerin Izkia Siches und Giorgio Jackson, seinen Minister aus dem Generalsekretariat der Präsidentschaft.

Von der Hoffnung zum Misstrauen – Ein Rückblick

Als die Ausschreitungen bei Demonstrationen am 18. Oktober 2019 massiv außer Kontrolle gerieten, begann für die chilenische Gesellschaft eine Zeit des sozialen und politischen Umbruchs. Schon länger existierte aufgrund von Schwachstellen des sozialen und politischen Systems ein Gefühl der Unzufriedenheit in der Bevölkerung, Nach Ansicht von politischen Akteuren des linken Spektrums liegen die Ursachen dafür in der Verfassung, die noch während der Pinochet-Diktatur im Jahr 1980 erlassen wurde.

Im Verlauf der Demonstrationen von 2019 verstärkten sich die Forderungen nach einer neuen Verfassung. Im Oktober 2020 gab es infolgedessen eine Volksabstimmung, bei der 78,31 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Erarbeitung einer neuen Verfassung stimmten. Im Mai 2021 wurde eine Verfassungsgebende Versammlung mit 155 Mitgliedern gewählt, um einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten.

Während das Referendum für eine neue Verfassung im Jahr 2021 eine breite Unterstützung fand, wurde der vorgeschlagene Textentwurf jetzt im Referendum vom September 2022 nicht akzeptiert. Damit ist dieser Prozess aktuell gescheitert.  

Ein Grund dafür dürfte u.a. die Wahl der Mitglieder der Verfassungskonvention sein. Zum einen fand die Wahl während der Corona-Pandemie zu einer Zeit statt, als die konservative Regierung in der Kritik stand, da sie nicht ausreichend Unterstützung zur Bewältigung der Quarantänemaßnahmen leistete. Die wachsende Unzufriedenheit führte zur Stärkung extrem linker Positionen und zur negativen Haltung gegenüber konservativen Kandidaten. Zum anderen gab es eine relativ hohe Repräsentation der indigenen Bevölkerung, die mit lediglich 5 Prozent der Stimmen 11 Prozent der Sitze erhielt. Außerdem durften unabhängige Kandidaten Listen bilden, um an der Wahl teilzunehmen.

Der Versuch, eine Versammlung zu wählen, die tatsächlich den Volkswillen widerspiegelt und den Forderungen der chilenischen Bevölkerungen nachgeht, war misslungen. Die Disparität äußerte sich zum einen in einem ausgeprägten Indigenismus und zum anderen im Vorhaben zur „Neubegründung der Republik“, was in den von der Konvention verabschiedeten Normen zu spüren war. Die Erklärung Chiles zum „plurinationalen Staat“ und die Einführung von unterschiedlichen Rechtssystemen für Chilenen indigener Herkunft und somit die Beeinträchtigung des Prinzips „Gleichheit vor dem Gesetz“, die Schwächung der Unabhängigkeit der Judikative sowie der Autonomie der Zentralbank und die Abschaffung des Senats, spielten eine große Rolle in der öffentlichen Diskussion. Einige Aspekte gingen Vielen, die sich für eine neue Verfassung aussprachen, zu weit. Positive Aspekte des vorgeschlagenen Textes wie die Ausweitung sozialer Rechte, mehr Umweltschutz sowie eine Stärkung der Dezentralisierung, haben keine Mehrheit bei den Bürgerinnen und Bürgern gefunden.

Des Weiteren schwächten Skandale die Glaubwürdigkeit der Versammlung. So erlangten hier Kandidaten hohe Positionen und dann wurde von der Presse aufgedeckt, dass sie den Wahlkampf durch Lügen beeinflusst hatten. Außerdem kam es regelmäßig zu hitzigen Auseinandersetzungen, die das Gefühl erweckten, es herrsche komplettes Chaos zwischen den Mitgliedern.

Breites politisches Spektrum war gegen den Entwurf

Die Konservativen und ein Teil der politischen Mitte-links-Kräfte konnten die Gesellschaft davon überzeugen, den Vorschlag abzulehnen.

Unter den Kritikern waren einflussreiche Personen aus dem Mitte-links-Spektrum, von denen einige sogar am demokratischen Übergang beteiligt waren, der 1990 begann. Zu ihnen gehörte der frühere Präsident Eduardo Frei (1994-2000) und der frühere Präsident Ricardo Lagos (2000-2006).

Eine zweite Chance

Präsident Boric betonte in einer Ansprache am Wahlabend, dass chilenische Männer und Frauen eine zweite Chance gefordert haben. Daher strebe er nun an, mit dem Kongress und der Zivilgesellschaft einen neuen verfassunggebenden Prozess anzustoßen, der Lehren aus dem bisherigen Prozess ziehe, und mit dem es gelingen solle, in einem neuen Text die breite Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren.

Die Debatte wird sich jetzt darum drehen, wie dieser von den Mehrheiten geforderte Text zustande kommen soll. Schon vor der Abstimmung waren Gespräche aufgenommen worden, auch mit den konservativen Parteien. Von Mitte-rechts - Renovación Nacional (RN) und Unión Demócrata Independiente (UDI) - sind positive Signale gekommen. Nur die Extreme, Republikaner und Kommunisten, lehnten jegliches Gespräch ab.

Ein breites politisches Spektrum wird in die Debatte einbezogen werden müssen, zumindest diejenigen, die weit von extremen politischen Kräften entfernt sind.

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Projektleitung: Jorge Sandrock
Chile
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