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Münchner Sicherheitskonferenz
Nackt in einer Welt von Stürmen

Autor: Andreas von Delhaes-Guenther

Auf die militärische Unterstützung der USA kann sich Europa nicht mehr unbedingt verlassen. Was brauchen wir, um uns auf die neue Welt geopolitischer Herausforderungen einzustellen? Im Raum stehen Forderungen nach einem eigenen atomaren Abwehrschirm, einer gemeinsamen europäischen Armee oder zumindest kompatibel ausgerüßteten nationalen Armeen.

Europa war wie eine Schafsherde, die vor dem anrückenden Wolf erstarrte und viel zu lange auf den Hirten mit seinem Hund vertraute. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat erhebliche Defizite in der Fähigkeit der europäischen NATO-Länder aufgedeckt, ohne die USA verteidigungsfähig zu sein. Eigentlich nichts Neues: Die Streitkräfte Europas leiden unter unzureichender und teils unbrauchbarer Ausrüstung, nicht erst seit den Transferleistungen in die Ukraine. „Wir sind nackt in einer Welt von Stürmen. 80 Prozent der militärischen Kraft der NATO befinden sich außerhalb der EU“, warnte Manfred Weber (CSU), MdEP.

Die Munition wird knapp: Ukrainische Artillerie im Einsatz nahe Saporischja im Süden des Landes

Die Munition wird knapp: Ukrainische Artillerie im Einsatz nahe Saporischja im Süden des Landes

NurPhoto; ©HSS; IMAGO

Zwar haben fast alle Länder mittlerweile ihre Verteidigungsausgaben erhöht, aber die neuesten Äußerungen des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, er werde säumige NATO-Zahler-Staaten nicht verteidigen und Russland sogar zu feindlichen Aktionen ermutigen, haben die anhaltende Strategielosigkeit erneut offenbart. Braucht Europa einen eigenen atomaren Abwehrschirm, eine gemeinsame Armee oder, wie es Unionsfraktionschef Friedrich Merz forderte, zumindest einheitlich ausgerüstete Armeen mit gemeinsamer Beschaffung von Militärgerät? Europa hat 180 verschiedene Waffensysteme, die USA nur 30, berichtete Weber.

„Mit Bedacht ausgeben – die Kapazität der europäischen Verteidigungsindustrie in Kriegszeiten und darüber hinaus steigern“, so heißt dann auch das Side-Event der Hanns-Seidel-Stiftung zur Münchner Sicherheitskonferenz MSC. Zu Gast sind Thomas Silberhorn, MdB, ehemaliger Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung, Rym Momtaz, Dr. Hans-Christian Atzpodien, Direktor im Bundesverband Deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, sowie Jiří Šedivý, Chief Executive der Europäischen Verteidigungsagentur (TBC) und Rym Momtaz Consultant Research Fellow am International Institute for Strategic Studies.

Ein Panzer in einem Fichtenwald zwischen den Stämmen

Warten auf den Feind: Einer der deutschen Panzer Leopard 2 in einem Wald bei Donezk im Osten der Ukraine

Funke Foto; ©HSS; Imago

Ein Hund blickt einer Drohne nach. Im Hintergrund bereiten zwei Männer einen Mörser vor.

Drohnen- und Mörsereinsatz in der Ukraine

Ukrinform; ©HSS; Imago

Verschärfte Lage an der Front

Bei Artilleriemunition wird aktuell eine ukrainische Unterlegenheit gegenüber Russland im Verhältnis von 1:5 genannt, bei der Flugabwehr droht angeblich gar ein weitgehender Stopp. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat gefordert, die Rüstungskapazitäten in Europa angesichts einer „möglicherweise jahrzehntelangen Konfrontation“ mit Russland auszubauen. Europa will jetzt die Ukraine mit mindestens 21 Milliarden Euro allein bei der Militärhilfe unterstützen – zu wenig. In Deutschland wird ein neuer Sonderposten von 300 Milliarden Euro fürs Militär genannt. „Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif“, stellte Verteidigungsminister Boris Pistorius fest, während Scholz demonstrativ die neue Munitionsfabrik von Rheinmetall in Unterlüß besuchte. Rheinmetall kündigte an, in all seinen Werken 2025 „bis zu 700 000 Artilleriegeschosse“ des NATO-Standards 155 Millimeter pro Jahr zu produzieren. 220.000 Stück der 155er hat die NATO-Beschaffungsorganisation NSPA beim französischen Konzern Nexter bestellt. Experten nennen aber für die Mindestverteidigung der Ukraine 5000 Schuss am Tag oder 1,8 Millionen im Jahr. Klar ist: Die Ukraine braucht bei militärischem Gerät von allem viel mehr und das rasch.

Bei einem Vergleich der finanziellen, humanitären und militärischen Unterstützung der Ukraine lag Deutschland mit rund 21 Milliarden Euro hinter der EU (85 Milliarden Euro) und den USA (71 Milliarden Euro) an dritter Stelle (Quelle: Ukraine Support Tracker des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Stand Ende Oktober 2023). Natürlich ist aber auch ein großer Anteil der EU aus Deutschland finanziert, rund 17,3 Milliarden Euro. Beim Wert der gelieferten Waffen und den Finanzhilfen für militärische Zwecke liegt Deutschland mit rund 17 Milliarden Euro hinter den USA mit rund 44 Milliarden Euro auf Platz zwei. Geliefert wurden von Deutschland nach den lächerlichen 5000 Helmen am Anfang mittlerweile Flugabwehrsysteme wie Patriot, Iris-T oder Skynex, Schützenpanzer Marder, Kampfpanzer Leopard 1 und 2, Flakpanzer Gepard, Panzerhaubitzen 2000, Minenräumpanzer Wisent, Mehrfachraketenwerfer Mars II sowie weitere Ausrüstung (eine Auflistung gibt es hier und hier). Andere Staaten auch außerhalb der NATO lieferten weitere Waffen, die wichtigsten wohl Panzer wie Bradley, Challenger und CV 90, dazu Waffensysteme wie HIMARS-Raketenwerfer, Javelin-Panzerabwehr, Bayraktar-Drohnen, Scalp- und Storm-Shadow-Marschflugkörper, "Stinger"-Flugabwehr und verschiedene Artillerie. Bald sollen 60 F16-Kampfjets folgen. Deutlich wird aber, dass sich große Nationen wie Frankreich, Spanien und Italien (alle nicht in den Top 10) zurückhalten. Insbesondere, wenn man die Unterstützungsleistungen mit dem Bruttoinlandsprodukt ins Verhältnis setzt (Infos hier).

Produktionsprobleme

Die Munitionshersteller in Europa sind im Gegensatz zur russischen Diktatur privatwirtschaftlich organisiert. Sie liefern nur auf Bestellung und bauen nur mit Abnahmegarantien neue Werke. Hier hat nicht nur Bundeskanzler Olaf Scholz durch sein ständiges Zögern viel Zeit verschwendet, dessen versprochene „Zeitenwende“ bis vor kurzem zu einem quälend langsamen „Zeitenwendchen“ verkam. Die Rüstungsindustrie plagt sich allerdings auch mit weiteren Problemen herum: Fachkräftemangel, Lieferbeschränkungen, EU-weit unterschiedliche Sicherheitsvorgaben und unwillige Bevölkerung beim Bau neuer Werke, Fehlen einzelner Rohstoffe und langwierige europaweite Ausschreibungen von Rüstungsprojekten. Exporte, die die Gewinnaussichten verbessern könnten, unterliegen zudem strengen Auflagen.

Für eine gerechtere Lastenteilung wird das Zwei-Prozent-Ziel des BIP für Verteidigung mittlerweile von allen europäischen Staaten angestrebt – im Schnitt sollen hier 1,8 Prozent erreicht worden sein. „Die Europäer haben ein Vielfaches der Wirtschaftsleistung Russlands. Die Unterstützung scheitert nicht an wirtschaftlichen Möglichkeiten. Sie ist eine Frage des politischen Willens“, sagt CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. Man darf nicht vergessen, was die militärisch weit unterlegene Ukraine geleistet hat: Russland hat in zwei Jahren Krieg – trotz einer dreimal so großen Bevölkerung, der angeblich zweitstärksten Armee der Welt und scheinbar endlosen Waffenvorräten – nur ein Fünftel der Ukraine erobern können. Seine Marine musste sich zurückziehen, seine Luftwaffe schießt vor lauter Angst nur aus weiter Entfernung. Seine Armee hat Tausende Panzer, Artillerie, Fahrzeuge und Hunderttausende Soldaten verloren. Und man sollte sich in einem Punkt auch nicht täuschen: Auch die Demokraten in den USA fordern die Einhaltung des Zwei-Prozent-Zieles und legen zugleich ihren militärischen Fokus auf China. Damit ist klar, dass Europa sich so schnell wie möglich militärisch stärker und eigenständiger aufstellen muss – egal, wie die US-Wahl ausgeht.

Wie geht es weiter?

„Kein einzelnes Waffensystem ist eine Wunderwaffe oder ein Gamechanger“, sagt Generalmajor Christian Freuding, der den Sonderstab Ukraine im Verteidigungsministerium leitet. Es komme auf einen langfristigen, strukturierten Fähigkeitsaufbau der ukrainischen Streitkräfte an. Zudem muss der Bundeskanzler endlich und immer wieder der Bevölkerung erklären, was uns alle erwartet: Die beste Verteidigung Europas ist es derzeit, diese militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu stärken.

Denn reicht dem Wolf die Ukraine? Auf die Frage, ob er Putin den Angriff auf ein NATO-Land zutraue, sagte der Leiter der MSC, Christoph Heusgen: „Natürlich. Putin hat ja mehrfach gesagt, dass die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts der Zerfall der Sowjetunion war, weil damit viele Russen außerhalb der Grenzen Russlands gestrandet sind.“ Am Ende bleibt zu hoffen, dass die europäische Schafsherde nun endlich aufgewacht ist und erkannt hat, dass sie gemeinsam stärker als der Wolf ist - zur Not auch ohne den Hirten. Und irgendwann wird man die Frage stellen müssen, wie viele ukrainische Leben man hätte retten können, wäre man früher erwacht.

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