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Absolute Parlamentsmehrheit für die bisherige Regierungspartei SNS
Serbien nach den Wahlen

Autor: Dr. Klaus Fiesinger

Veränderungen des innen- und außenpolitische Regierungskurses sind nicht zu erwarten. Das proeuropäische Bündnis „Serbien gegen Gewalt“ hat als zweitstärkste Kraft im Parlament einen Achtungserfolg errungen.

Die Strategie von Staatspräsident Aleksandar Vučić hat sich als erfolgreich erwiesen: In omnipotenter medialer Präsenz dominierte er die vorgezogenen Parlamentswahlen am 17. Dezember, parallel dazu wurde in über 60 Kommunen, in der Hauptstadt Belgrad und in der Autonomen Provinz Vojvodina gewählt. Eine Präsidentenwahl stand diesmal nicht an.

Kräfteverhältnis im neuen Parlament

Die um die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS, Srpska Napredna Stranka) des seit 2017 amtierenden Staatspräsidenten versammelte Liste „Aleksandar Vučić - Serbien darf nicht stehenbleiben“ ging mit 46,63 Prozent der Stimmen als die stärkste politische Kraft und damit als klarer Sieger aus der Wahl hervor.  Die SNS konnte ihr Ergebnis der Parlamentswahlen von 2022 sogar noch um zwei Prozentpunkte verbessern und wird in der 250 Mandate zählenden Volksversammlung (Skupština) mit voraussichtlich 128 Mandaten mit absoluter Mehrheit vertreten sein. 

Die Parlamentswahlen sind nach den regulären Wahlen vom Juni 2020 und den ebenfalls schon vorgezogenen Wahlen vom April 2022 die dritten Wahlen innerhalb von drei Jahren. Insgesamt 18 Wahlbündnisse waren angetreten. Für den Einzug ins Parlament gilt derzeit die Drei-Prozent-Hürde. Die Minderheitenparteien sind von dieser Regelung ausgenommen. Laut ersten Hochrechnungen der Nationalen Wahlkommission betrug die Wahlbeteiligung  58,78 Prozent.

Liste „Aleksandar Vučić - Serbien darf nicht stehenbleiben“ ging mit 46,63 Prozent der Stimmen als Sieger aus der Wahl hervor.

Liste „Aleksandar Vučić - Serbien darf nicht stehenbleiben“ ging mit 46,63 Prozent der Stimmen als Sieger aus der Wahl hervor.

HSS

Der vorgezogene Wahltermin war von Aleksandar Vučić mit dem Ziel angesetzt worden, seine politische Machtbasis zu festigen und auszubauen, nachdem im Frühjahr dieses Jahres zwei Amokläufe mit zahlreichen Todesfällen Massenproteste gegen die teilweise gewalt-verherrlichenden regierungsnahen Medien und damit auch gegen die Regierung selbst ausgelöst hatten.

Aus diesen Demonstrationen formierte sich das Oppositionsbündnis  „Serbien gegen Gewalt“, dem bei den jüngsten Parlamentswahlen zumindest ein Achtungserfolg gelang. Es stellt nunmehr mit 23,71 Prozent die zweitstärkste parlamentarische Kraft dar. Inwieweit  dieses in seiner Grundtendenz proeuropäische Bündnis, das sich aus mehreren linken, liberalen und Mitte-Rechts-Parteien zusammnesetzt, wirksame Opposition betreiben kann, muss sich erst noch zeigen.

Drittplazierter ist die Liste der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) des bisherigen Außenministers und Vize-Ministerpräsidenten Ivica Dačić mit 6,56 Prozent, die als älteste Kraft der serbischen Parteienlandschaft und bisheriger Koalitionspartner der SNS  ihr schlechtestes Ergebnis seit über 15 Jahren erzielte. Die Drei-Prozent Hürde konnten auch die   aus der Neuen Demokratischen Partei Serbiens (NDSS) und der Bewegung für die Wiederherstellung des Königreichs Serbien (POKS) zusammengesetzte rechtskonservative nationalistische Liste „Koalition der Hoffnung“ mit 5,03 Prozent sowie die neue Bewegung des Rechtspopulisten Branimir Nestorović mit 4,69 Prozent überspringen.  Darüber hinaus werden die Allianz der Vojvodina-Ungarn sowie verschiedene Minderheitenparteien, die von der Sperrklausel ausgenommen sind, wieder im Parlament vertreten sein.

In Serbiens Hauptstadt Belgrad mit 1,6 Millionen Wahlberechtigten, fast ein Viertel der gesamten serbischen Wählerschaft, wurde die SNS ebenfalls stärkste politische Kraft, dicht gefolgt vom Oppositionsbündnis „Serbien gegen Gewalt“. Dieses Oppositionsbündnis sieht sich in Belgrad um seinen Sieg betrogen und reklamiert, dass die von der SNS dominierten Behörden massenhaft Einwohner der Republika Srpska aus Bosnien-Herzegowina in Belgrad registriert habe, um ihnen damit das Wahlrecht in der Hauptstadt zu verschaffen. Diese externen Wähler seien mit Bussen zu den lokalen Wahlzentren transferiert worden. Unabhängige Wahlbeobachter bestätigen in internationalen Medien wahlspezifische Irregularien.  

Zum Ergebnis der Parlaments-, Regional- und Kommunalwahlen vom 17. Dezember 2023 hat Dr. Klaus Fiesinger, HSS-Regionalleiter für Südosteuropa, mit Prof. Dr. Dušan Spasojević, gesprochen,  Professor an der Fakultät für Politikwissenschaften der Universität Belgrad:

Prof. Dr. Dušan Spasojević unterrichtet an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad u.a. Politische Parteien und parteiliche Systeme. Seine Forschungsarbeit fokussiert sich auf politische Parteien, Transitionsprozesse, Demokratisierung,  Zivilgesellschaft, soziale Spaltungen.

Prof. Dr. Dušan Spasojević unterrichtet an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad u.a. Politische Parteien und parteiliche Systeme. Seine Forschungsarbeit fokussiert sich auf politische Parteien, Transitionsprozesse, Demokratisierung, Zivilgesellschaft, soziale Spaltungen.

Dušan Spasojević ; HSS

HSS: Prof. Spasojević, wie schätzen Sie das Ergebnis der Wahlen im Kontext der innenpolitischen Situation in Serbien ein? Warum lässt Vučić so oft wählen?

Prof. Dr. Dušan Spasojević: Die Parlamentswahlen brachten keine signifikante politische Veränderung mit sich, obwohl  geringfügige Bewegungen in der Wählerschaft einige überraschende Ergebnisse bewirkten. Die bisher regierenden Parteien konnten im Vergleich zu den letzten Wahlen ähnliche Ergebnisse erzielen, sodass sie nun wieder als Hauptfavoriten für die Bildung der neuen Regierungsmehrheit gelten. Dabei muss angemerkt werden, dass die SNS beinahe die Hälfte der Stimmen der SPS für sich gewinnen konnte, indem sie einen ziemlich harten Wahlkampf gegen ihren Koalitionspartner führte. Die führende oppositionelle Liste „Serbien gegen Gewalt“ erhöhte ihre Gesamtzahl der Mandate auf 65, was beachtlich ist: Nach den vergangenen Parlamentswahlen 2022 waren es 51 Mandate gewesen. Somit bestätigte sich die Bedeutung des Synergieeffektes eines oppositionellen Wahlbündnisses. Allerdings sind größere Erfolge ausgeblieben. Das ist vielleicht auf den ziehmlich allgemein gehaltenen Wahlkampf zurückzuführen, in dem konkrete Themen vermieden wurden.  Diese sehr breitgefächerte Koalition hätte mit unterschiedlichen Positionenauftretenmüssen.
Die rechten Kräfte erlebten ebenfalls gewisse Wähler-Verschiebungen: obwohl keine bedeutenden Änderungen feststellbar sind, gilt der Parlaments-Einzug der antisystemischen Liste unter Leitung des Arztes Nestorović als Überraschung.

Selbstverständlich darf die Analyse nicht auf die Parlamentswahlen reduziert werden, sondern muss auch die Wahlergebnisse in der Hauptstadt Belgrad berücksichtigen. Dort progrostizierten Meinungsumfragen den oppositionellen Parteien einen Vorsprung für den Fall, dass sie sich gegen SNS und SPS einigen. Die aktuellen Wahlergebnisse zeigen jedoch, dass die SNS in Belgrad ein ziemlich gutes Ergebnis erzielt hat und dass sie in Koalition mit den Sozialisten und wahrscheinlich mit noch ein paar weiteren Stimmen die Mehrheit im Belgrader Stadtrat haben könnte. Die Liste „Serbien gegen Gewalt“ erzielte ein solides Ergebnis, blieb aber hinter den Erwartungen zurück. Dennoch werden uns die großen Unregelmäßigkeiten, die während der Wahlen in Belgrad von nationalen und internationalen Beobachtungsmissionen festgestellt wurden, wahrscheinlich in eine gewisse politische Krise führen, insbesondere angesichts der dünnen Mehrheit, auf die SNS und SPS zählen können.

Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass einer der Gründe für die erneute Ausrufung der vorgezogenen Wahlen in dem Versuch der regierenden Mehrheit lag, die Kontrolle über die politische Situation wiederherzustellen. Die nach zwei Amokläufen ausgebrochenen Massenproteste brachten eine neue Dynamik in das politische Leben in Serbien. Ereignisse im Kosovo, insbesondere bewaffnete Auseinandersetzungen der Serben mit der kosovarischen Polizei im Norden vom September dieses Jahres verstärkten den Druck auf die serbische Regierung, in den Verhandlungen mit Priština kooperativer zu agieren. Wenn man dazu noch die hohe Inflation nimmt, die die SNS-Wähler am meisten trifft, ist es offensichtlich, dass Neuwahlen einen guten Mechanismus für die erneute Übernahme der Kontrolle über wichtige Prozesse bedeuten. Aleksandar Vučić konnte auf eine solide Machtbasis setzen. Während des Wahlkampfs hatte er einen bedeutenden Vorsprung, was Finanzen und Medienpräsenz betrifft, sodass er auf vorgezogene Parlamentswahlen gerne zurückgreift, wenn er einen Mechanismus braucht, eine Krise zu verhindern oder einzudämmen. So kam es auch zu den vorgezogenen Wahlen 2014 und 2016, nach denen identische Regierungsmehrheiten zustandekamen, wie vor den Wahlen.

HSS: Wie gestaltet sich das weitere Prozedere? Wann rechnen Sie mit einer neuen Regierung?

Bisherige Erfahrungen zeigen, dass die SNS die Regierungsbildung so weit wie möglich hinauszögert. Dadurch verschafft sie sich wertvolle Zeit. Eventuelle unangenehme Entscheidungen können verschoben und die Position des Staatspräsidenten gestärkt werden, der während des technischen Mandats der Regierung als  einziger durchsetzungsfähiger Akteur fungiert. Gerade aus diesen Gründen hat Serbien so oft vorgezogene Wahlen. Laut Gesetz muss das Parlament spätestens 30 Tage nach den Wahlen konstituiert werden, die Regierung binnen 90 Tagen nach der Parlamentskonstituierung, sodass wir wahrscheinlich auf die neue Regierung bis Ende April 2024 warten müssen. Allerdings könnte dieses Mal der internationale Druck bezüglich einer Einigung im Zusammenhang mit dem Kosovo die Regierungsbildung eventuell beschleunigen. Aber auch in einem solchen Fall hätte die bisher regierende Partei SNS mehr Vorteile von einer geschäftsführenden als von einer regulären Regierung.

HSS: Wie schätzen Sie die Außenwirkung dieser Wahlergebnisse ein, wird sich damit die außenpolitische Position Serbiens ändern oder nicht?

Wenn man die Wahlergebnisse betrachtet, ist eine bedeutende Veränderung des außenpolitischen Kurses Serbiens nicht wahrscheinlich. Eigentlich lautet die Frage, inwieweit sich die bestehende Außenpolitik Serbiens überhaupt verändern könnte. Was könnte als Ansporn dazu dienen? Im Moment scheint es so zu sein, dass die bisherige Regierungsmehrheit weiterhin versuchen wird, Zeit zu gewinnen und ein Abkommen mit dem Kosovo so weit es geht zu vermeiden, wie es Vučić im Wahlkampf ja auch implizit thematisierte.  Gewisse Zugeständnisse sind schon realistisch im Falle eines großen außenpolitischen Drucks, wie uns auch Dačić in Bezug auf eventuelle Sanktionen gegen Russland mitteilte. Selbst wenn es zu einem Abkommen käme, bin ich allerdings skeptisch gegenüber der Fähigkeit dieser Regierung, eine substantielle Hinwendung Richtung Westen und in Richtung europäische Integration vollzuziehen, da dies ihre Regierungsmechanismen untergraben könnte. Allerdings glaube ich an ihre Kapazität, die Beziehungen zum Kosovo vom derzeit  „toten Punkt“ loszulösen und die Mitgliedschaft Kosovos in einigen internationalen Organisationen, nicht jedoch in den Vereinten Nationen,  stillschweigend zu akzeptieren, sozusagen als „Gegenleistung“ für die Einrichtung des Verbands der serbischen Gemeinden und für eventuelle neue Investitionen. Dennoch: Wenn man bedenkt, dass die Wahlen für das Europäische Parlament und die Wahlen in den USA bevorstehen - Vučić hätte gerne den Sieg von Trump - und wenn es Vučić gelingt, dem Druck in den kommenden paar Monaten standzuhalten, verringen sich auch weiterhin die Chancen für einen Wandel im außenpolitischen Kurs.

HSS: Herr Prof. Spasojević, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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