Prof. Dr. Orlović: Die Entscheidung über die Beendigung des Notstands wurde auf die gleiche Weise getroffen, wie der nationale Notstand ausgerufen wurde, nämlich in gewisser Weise damals im Schatten der auf April angesetzten Parlamentswahlen und jetzt wieder im Vorfeld des neuen Termins für die Parlamentswahlen, die am 21. Juni 2020 abgehalten werden. Dabei haben wir folgende Situation: Im Gegensatz zur regierenden Partei, die auch während der Pandemie und des Notstands die „Funktionärs-Kampagne“ (HSS Anmerkung: Besuche auf Baustellen, in Krankenhäusern etc. von Seiten der staatlichen Funktionäre) fortsetzen konnte, währenddessen die Opposition gezwungen war, zu Hause zu sitzen und die Notstandsmaßnahmen zu beachten. Ihre einzige Aktivität spielte sich im Netz ab. Und schließlich das, was in den vergangenen Wochen passierte: Einerseits die Bürgerproteste „Mit Lärm gegen die Diktatur“ auf den Balkonen mit Pfeifen und Topfschlagen und andererseits die sogenannten Gegenproteste unter Regie der regierenden Partei mit großen Lautsprechern und Fackeln, die „Fußballfans“ auf Dachterrassen anzündeten.
All dies illustriert ein in sich tief gespaltenes Serbien. Meiner Meinung nach sind diese Differenzen, Spannungen und Spaltungen innerhalb der Gesellschaft während der Pandemie, die noch nicht zu Ende ist, noch auffälliger. Das bestätigt auch die Tatsache, dass ein Teil der sogenannten „Hardcore-Opposition“ – wenn wir diejenigen Parteien so nennen dürfen, die keine Absicht auf Zusammenarbeit äußern und auch nicht unter Kontrolle oder Einfluss der regierenden Partei stehen, weil zu den grundlegenden Aufgaben der Opposition die Kontrolle, Kritikausübung und das Anbieten von Alternativen gehören – immer noch bei der Idee des Boykotts der Parlamentswahlen blieb. Diese Idee wurde vor einem Jahr im Rahmen der Bürgerproteste „Einer von fünf Millionen“ geboren (HSS-Hintergrundinformation, siehe hierzu auch „Serbien im Selbstfindungsprozess“).
Zur Zeit der Ausschreibung der Wahlen und jetzt auch, nachdem der neue Termin feststeht, blieb der harte Kern der Opposition bei der ursprünglichen Entscheidung bezüglich des Boykotts, obwohl es sich einige Akteure inzwischen anders überlegt haben, wie die oppositionelle Partei "Bewegung der freien Bürger" (Serbisch: Pokret slobodnih gradjana - PSG).
Die Idee, die Parlamentswahlen zu boykottieren, wurde einerseits durch ungleiche Voraussetzungen inspiriert. In erster Linie deswegen, weil die Vorstellung oppositioneller Programme und Kandidaten in den Medien für das ganze Land nicht möglich ist. Andererseits soll mit dem Boykott in gewisser Weise auf die „Delegitimierung“ der Regierung aufmerksam gemacht werden. Es ist auch bekannt, dass ein Boykott nirgendwo zum Machtwechsel geführt hat und das wird jetzt in Serbien auch nicht passieren.
Schon jetzt mehren sich die Anzeichen dafür, dass eigentlich erst nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen Belgrad und Priština die momentane Situation beendet werden kann und die Opposition wahrscheinlich erst im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2022 eine günstigere Position innehaben wird.
Auch in Zeiten vor dem Notstand und der Corona-Pandemie stand die regierende politische Mehrheit in Serbien außer Frage, allerdings ist die „Tyrannei der Mehrheit“, wie es Alexis de Tocqueville einmal formuliert hat, problematisch, genauso wie die Achtung der Rechte der Minderheiten und die Medienfreiheit, wie es viele externe Evaluierungen, aber auch diverse Nachrichten aus der EU belegen. Obwohl sich die neuesten Aufrufe aus Brüssel im Sinne der Chancengleichheit auf die Notwendigkeit des Wahlauftritts aller politischen Akteure beziehen, herrscht in Serbien hinsichtlich der Schaffung von adäquaten Wahlvoraussetzungen ein Status quo.