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Rücktritt des Staatspräsidenten in Peru
Zivilgesellschaft zeigt Stärke

Zur Mittagszeit am Sonntag, den 15. November war es so weit. Der Interimspräsident Manuel Merino konnte dem stärker werdenden Druck nach den Protesten der Bevölkerung nicht mehr standhalten und verkündete seinen Rücktritt. Der Nachfolger Francisco Sagasti Hochhausler wurde aufgrund interner Machtspiele erst am Folgetag gewählt.

  • Peruanische Bevölkerung demonstriert gegen Manuel Merino
  • Die Gewalt eskaliert
  • Proteste führen zum Rücktritt von Merino
  • Francisco Sagasti Hochhausler wird neuer Staatspräsident

Wie kam es dazu?

Manuel Merino nahm als Kongresspräsident nach der Absetzung des Staatspräsidenten Martin Vizcarra gemäß der konstitutionell festgelegten Vertretungsnachfolge am 9. November das Amt des höchsten Staatsoberhauptes ein. Der Nachfolger konnte sich nur fünf Tage im Amt halten. Seine Übergangspräsidentschaft hatte von Anfang keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Nahezu drei Viertel der Bevölkerung lehnten den Kongresspräsidenten und dessen Politik ab. Merino fiel in der letzten Zeit eher durch verschiedene polemische Entscheidungen und mutmaßliche Verzögerungen bei Ermittlungen wegen Korruption gegen Kongressabgeordnete auf als durch eine Politik zur Bewältigung der Krise im Land. Daher glaubten auch viele Peruaner nicht an eine seriöse Präsidentschaft, sondern unterstellten Merino und seinen Anhängern von Beginn an Populismus, Korruption und den Ausbau der eigenen Macht. Die ersten fragwürdigen Entscheidungen der neuen Regierung ließen nicht lange auf sich warten.

Die Zivilgesellschaft zeigt Stärke: In Lima protestieren Bürger in einer Fahrraddemonstration gegen die Politik von Interimspräsident Manuel Merino.

Die Zivilgesellschaft zeigt Stärke: In Lima protestieren Bürger in einer Fahrraddemonstration gegen die Politik von Interimspräsident Manuel Merino.

Philipp Fleischhauer

Reaktion der Bevölkerung

Auf der anderen Seite folgten auf die Ernennung von Merino heftige Reaktionen der Bevölkerung. Diese waren für viele Beobachter in dieser Form nicht erwartet worden. Die peruanische Zivilgesellschaft fiel in den vergangenen Jahren durch eine gewisse Apathie in Bezug auf die Politik ihres Landes auf. Es schien so, dass sich die Gesellschaft von den Entscheidungen der Regierungen abgewandt und mit der Politik abgeschlossen hatte, egal was geschah. Demokratie und politische Beteiligung spielten bei einem großen Teil der Bevölkerung eine untergeordnete bzw. gar keine Rolle. So fand beispielsweise die Kongressauflösung im Oktober 2019 so gut wie keinen Widerhall in der Bevölkerung. Es kam weder zu Demonstrationen, Blockaden noch zu einer anderen Art des politischen Widerstands. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einerseits müssen viele Peruaner weiterhin um ihr tägliches Brot kämpfen – Peru hat einen Anteil von über 70 Prozent an informeller Wirtschaft. Andererseits glauben nach dem Wegfall der traditionellen politischen Parteien und der seit Jahren überbordenden Korruption im Land viele Menschen nicht mehr an Demokratie bzw. haben aufgehört sich für politische Partizipation zu interessieren.

Aktuelle Entwicklungen

Aus diesem Grund sind die aktuellen Entwicklungen im Land umso wichtiger. Schon am Tag der Machtübernahme durch Manuel Merino kam es zu spontanen Kundgebungen, da die Mehrheit der Bevölkerung den Interimspräsidenten als illegitim ansah.

Vor allem die jungen Generationen und unter ihnen viele Frauen sind der traditionellen politischen Klasse und ihres Regierungsstils sowie der sozialen und politischen Lage überdrüssig. Sie sind es auch, die täglich die Demonstrationen auf den Straßen des Landes anführen. Ähnlich wie in anderen Ländern Lateinamerikas sind es in Peru oftmals die jungen Generationen, die vom wirtschaftlichen Wachstum des Landes nur wenig profitieren. Die Corona-Pandemie, die in der sowieso schon eklatanten politischen und institutionellen Krise noch eine der schwersten Wirtschaftskrisen der Geschichte Perus einläutete, markiert hier nur den vorübergehenden Höhepunkt.

Kreativ und friedlich demonstriert die Zivilgesellschaft, vor allem die Jugend, gegen die ausufernde Gewalt in Lima, der Hauptstadt von Peru.

Kreativ und friedlich demonstriert die Zivilgesellschaft, vor allem die Jugend, gegen die ausufernde Gewalt in Lima, der Hauptstadt von Peru.

Philipp Fleischhauer

Gewalt überschattet die Demonstrationen

Bei den Aufeinandertreffen der Demonstrierenden mit der Polizei schraubte sich die Gewaltspirale von Tag zu Tag in die Höhe. Immer öfter wurde durch die Medien bei den Zusammenstößen von übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei berichtet. Sowohl Amnesty International als auch die Vereinten Nationen protestierten gegen das unverhältnismäßige Agieren des Staatsapparats. Ihren Gipfel fanden die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen dann am Abend des 14. November. Zwei Demonstranten wurden durch Geschosse der Polizei getötet, weit über 100 verletzt und über 40 Personen werden vermisst. Nach Aussagen der nationalen Zeitungen setzten die Polizisten neben Tränengas auch Schrotmunition sowie Glaskugeln ein. Nach Bekanntwerden des Todes der ersten Person, eines 24-jährigen Studenten, ging noch am Abend ein Sturm der Entrüstung durch das gesamte Land. Nun gingen weite Teile der Bevölkerung auf die Straßen und verliehen durch Cacerolazos (Topfschlagen), Hupen, Rufen und Tröten ihrem Unmut Ausdruck.

Druck führt zum Rücktritt von Merino

Noch in der Nacht traten verschiedene Minister ebenso wie Angehörige des neuen Direktoriums des Kongresses zurück. Nicht nur das Volk verlangte vehement den Rücktritt Merinos. Auch Politiker verschiedenster Parteien, der Oberbürgermeister Limas oder Persönlichkeiten wie der peruanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa forderten den Präsidenten auf, sein Amt ruhen zu lassen.

Eigentlich wollte Merino sich dem bis dahin schon vorhandenen Druck nicht beugen. Als auch die Armee ihm die Unterstützung versagte und der Kongress den Präsidenten zum Rücktritt aufforderte, änderte er am Sonntag seine Meinung. In einer eher improvisierten als gut vorbereiteten Fernsehansprache kündigte Manuel Merino dann kurz nach 12 Uhr mittags seinen Rücktritt an. Ein weiteres Festklammern an der Macht hätte zu einer Verschlimmerung der Zustände im Land geführt.

Freudige Reaktionen in der Bevölkerung

Nach Bekanntwerden des Rücktritts brachen bei der Bevölkerung alle Dämme. Die Straßen verwandelten sich schlagartig von Protestmeilen in ausgelassene Festplätze. Von den Wohntürmen Limas bis hin zu Auto- und Fahrradkorsos und feiernden Menschen in den Straßen war die Erleichterung und Freude deutlich zu spüren. Viele Menschen schauten sich auch ungläubig an, da sie es im ersten Augenblick gar nicht fassen konnten, dass eine Protestbewegung der Zivilgesellschaft, angeführt von jungen Peruanern zum „Sturz“ des ungeliebten Präsidenten führte. Erstmals seit Jahren spürten viele Bürger wieder Vertrauen in die eigene politische Macht, Demokratie und eine gewisse Gerechtigkeit im Land.

Noch am Nachmittag kamen die Abgeordneten des Kongresses zusammen, um das weitere Vorgehen zu besprechen und dadurch ein Machtvakuum und weiteres politisches Chaos zu verhindern. Von einigen politischen Parteien kam die Forderung, die Amtsenthebung Vizcarras rückgängig zu machen (das Verfassungsgericht wird sich zur Rechtmäßigkeit der Absetzung äußern). Andere Politiker postulierten, dass einer der wenigen Abgeordneten, die gegen die Absetzung gestimmt hatten, zum Präsidenten ernannt werden solle. Am Sonntagabend einigten sich die Fraktionssprecher auf ein neues Direktorium mit einer Präsidentin der Linkspartei Frente Amplio. Bei der darauffolgenden Wahl fiel diese unterwartet mit 52 Gegenstimmen (42 Pro und 25 Enthaltungen) durch.

Etwa zur gleichen Zeit brachte sich am anderen Ende der Stadt der abgesetzte Präsident Martin Vizcarra via Twitter und Fernsehen selbst ins Gespräch, in dem er angab, dass es ihm nichts ausmachen würde seine Amtszeit zu komplettieren. Am Montag um 14 Uhr peruanischer Zeit trat der Kongress dann erneut zusammen, um ein neues Direktorium und damit auch einen neuen Staatspräsidenten zu wählen.

Der neue Präsident

Nach internen Machtspielen und politischem Tauziehen konnte sich schließlich Francisco Sagasti Hochhausler durchsetzen.

Mit 97 zu 26 Stimmen gewann die Liste des Abgeordneten der „Partido Morado“ die Abstimmung. Sagasti (76), der mütterlicherseits österreichische Wurzeln hat, gilt als gemäßigt. Er lehrte an mehreren nationalen und internationalen Universitäten und hat in verschiedenen internationalen Organisationen wie der UN oder der Weltbank gearbeitet. Er ist Autor diverser Bücher und Publikationen sowie Träger verschiedener Auszeichnungen, u.a. der Friedensmedaille der vereinten Nationen.

Ausblick

Es ist davon auszugehen, dass es auch der neue Präsident schwer haben wird das Land vollständig zu befrieden. Das scheinbar wiedererstarkte Volk fordert mehr als nur den Rücktritt eines vermeintlich korrupten Präsidenten. Es ist mit dem gesamten politischen System, seinen aktuellen Vertretern und der überbordenden Korruption unzufrieden.

Die ersten Entscheidungen der neuen Regierung werden zeigen, ob sie den momentan vagen Frieden bis zu den Wahlen im April 2021 halten kann oder ob die Ausschreitungen ähnlich wie im Nachbarland Chile sich nun in einen sozialen Flächenbrand verwandeln. Momentan ist eher von erstem Szenario auszugehen. Zum einen wurde das Etappenziel Rücktritt erreicht und Peru gilt trotz der neuen politischen Teilnahme der Bevölkerung weiterhin als weniger politisiert. Es scheint, dass alle Akteure aktuell an einer friedlichen Lösung interessiert sind und ein Einschreiten des Militärs verhindern wollen. Wie es aber nun genau weitergeht und was das Ziel ist, darüber gehen die Meinungen auch in der Bevölkerung auseinander. Einige möchten eine stabile Übergangsregierung, andere eine Entscheidung des Verfassungsgerichts mit der Wiedereinsetzung der Regierung Vizcarras und manche fordern gleich eine neue Verfassung.

Trotz all der negativen Auswirkungen, der Gewalt, den Toten und Verletzen, ist positiv zu bewerten, dass sich vor allem die jungen Generationen aus ihrer politischen Abstinenz lösen und versuchen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie haben erkannt, dass auch sie Änderungen erzielen können. Wenn nun erreicht wird, dass diese politische Artikulation in demokratische Bahnen und ein nachhaltiges politisches Engagement gelenkt wird, könnte sich Peru in Zukunft aus der politischen Apathie erheben und durch die jungen Generationen auf lange Sicht eine neue demokratische Basis geschaffen werden.

Autor: Philipp Fleischhauer 

Die Projektarbeit der HSS in Peru

Die Hanns-Seidel-Stiftung unterstützt und begleitet mit dem Projektschwerpunkt Politische Nachwuchsförderung diesen Prozess nachhaltig.

In zwei Politikschulen sowie verschiedenen Simulationen des nationalen Parlaments interessieren sich die neuen Generationen wieder für politische Teilnahme und Teilhabe und erlernen die Fertigkeiten für eine politische Karriere. In den Programmen lernen die Nachwuchsführungskräfte die Bedeutung von Demokratie, nachhaltiger Politik sowie ethische Werte. Sie werden bei der Integration in das aktive politische Leben sowie dem Erlangen von strategisch wichtigen Positionen begleitet, um langfristig und nachhaltig eine Stärkung der Demokratie und Politik in Peru zu erreichen.

Peru
Dr. Holger Michael
Projektleitung
Lateinamerika
Esther J. Stark
Leiterin
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