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Neuer Sozialpakt für Chile
Soziale Krise, Pandemie und Verfassungsreferendum

Auf dem Weg zum neuen Sozialpakt in Chile warten viele Herausforderungen, nicht nur die erfolgreiche Bekämpfung von Covid-19. Ende Oktober 2020 haben die Chilenen in einem Referendum für eine neue Verfassung abgestimmt. Dieser Entscheidung waren Monate einer tiefen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise vorausgegangen.

  • Krise und Ausnahmezustand in Chile
  • Forderungen nach Reformen
  • Verfassungsklage gegen den Präsidenten
  • Covid-19
  • Referendum für eine neue Verfassung
Seit Oktober 2019 protestierten die Chilenen gegen soziale Missstände. Die Regierung rief zunächst den Ausnahmezustand aus und dann trat das gesamte Kabinett zurück.

Seit Oktober 2019 protestierten die Chilenen gegen soziale Missstände. Die Regierung rief zunächst den Ausnahmezustand aus und dann trat das gesamte Kabinett zurück.

Jorge Sandrock

Zuspitzung der Krise 2019

Schon die Monate vor der Covid-19-Viruspandemie waren Schauplatz der tiefsten sozialen, politischen und institutionellen Krise Chiles in den letzten 30 Jahren.

In der ersten Oktoberwoche 2019 gab es in der Hauptstadt Santiago eine Fahrpreiserhöhung für das U-Bahnticket. Sie führte zu einer weit verbreiteten Unzufriedenheit. Studenten und Schüler brachten Ihren Unmut durch koordinierte, gleichzeitige Aktionen (z.B. Schwarzfahren) an verschiedenen Stellen des U-Bahnnetzes zum Ausdruck.
Am 18. Oktober eskalierte die Situation, es kam zu gewalttätigen Protesten, die zur vollständigen oder teilweisen Zerstörung von fast der Hälfte der Metro-Stationen des U-Bahnnetzes führten. Ebenso fanden Gewaltakte, Plünderungen und Brände in Santiago und weiteren Städten des Landes statt.
Diese Krise veranlasste die Regierung den Ausnahmezustand auszurufen. Damit wurde das Versammlungsrecht und die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Trotz dieser Maßnahme kam es in den folgenden Wochen im ganzen Land zu beispiellosen Gewalttaten, die in gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizisten endeten. Es wurden 23 Todesfälle und Hunderte von Menschen mit schweren Verletzungen beklagt. Vorwürfe eines übermäßigen Gewalteinsatzes und Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Streitkräfte wurden laut.

Information
Kritik an Chiles Weg

Das Wirtschaftsmodell des Landes wurde bereits vor den Protestaktionen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im Oktober 2019 stark kritisiert. Die Fahrpreiserhöhung der U-Bahntickets in der Hauptstadt wiederum, angeblich der Auslöser für den Ausbruch der Protestwelle, betrug 30 Pesos (umgerechnet 3 Cent). Der von den Demonstranten geprägte Ausdruck "es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre" bezeichnet das Unbehagen der Bevölkerung in Bezug auf ein System, das es zwar geschafft hat, dass Chile zu den Schwellenländern der Region zählt, dem es aber weder gelungen ist, die wirtschaftliche Ungleichheit erheblich zu verringern noch die soziale Inklusion erfolgreich zu fördern.

Auch das Gesellschaftsmodell wird stark in Frage gestellt. Das zeigte deutlich der Marsch am internationalen Frauentag am 08. März 2020, an dem Hunderttausende Menschen teilnahmen. Auch der Konflikt mit den Mapuche zeigt, dass das Land in Fragen der Geschlechtergleichstellung sowie in Gerechtigkeit und Inklusion mit seinen indigenen Gruppen Fortschritte erzielen muss.

Forderung nach Reformen

Eine Woche nach „18-O“, einem Namen, der dem 18. Oktober 2019 als Symbol für den Beginn des sozialen Aufstandes gegeben wurde, fanden im ganzen Land massive Demonstrationen statt, die soziale, wirtschaftliche und politische Reformen forderten. Die unmittelbare Folge dieser Bürgerdemonstrationen war der Rücktritt des gesamten Kabinetts. Auf diese Weise versuchte Präsident Sebastián Piñera politische Veränderungen im Kabinett herbeizuführen, um die Krise einzudämmen. Gleichzeitig kündigte die Regierung in den folgenden Tagen eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen sowie politische Reformen an.

Trotz Änderungen in der politischen Führung und Ankündigungen von Reformen und sozialen Verbesserungen setzten sich die Gewalttaten im ganzen Land fort. Diese Situation sowie die Tatsache, dass radikale Gruppen den Rücktritt des Präsidenten der Republik forderten, führte zu einem Akt demokratischer und institutioneller Verantwortung seitens der Mehrheit des politischen Spektrums.

Am 15. November wurde das "Abkommen für sozialen Frieden und die neue Verfassung" unterzeichnet. Darin brachten die beteiligten politischen Kräfte ihr Engagement für die Wiederherstellung des Friedens und der öffentlichen Ordnung sowie die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und der gegenwärtigen demokratischen Institutionen zum Ausdruck.

Gleichzeitig versprachen sie, im April 2020 ein Referendum durchzuführen, um die Öffentlichkeit über die Erarbeitung einer neuen Verfassung entscheiden zu lassen. Ferner sollte abgestimmt werden, wer eine mögliche neue Verfassung entwerfen soll: eine gemischte Versammlung aus Abgeordneten und gewählten Delegierten (Bürgern) oder eine aus 155 ausschließlich gewählten Delegierten bestehende Versammlung.

Verfassungsklage gegen den Präsidenten

Ein Teil der „Frente Amplio“ und der Kommunistischen Partei hat sich geweigert, das Abkommen zu unterzeichnen. Im Gegensatz dazu haben sie eine Verfassungsklage gegen den Präsidenten der Republik erhoben, mit dem Ziel, sein Mandat vorzeitig zu beenden. Dieser Versuch war erfolglos und wurde in der Abgeordnetenkammer abgelehnt. Es war die zweite Verfassungsklage gegen einen amtierenden Präsidenten in der republikanischen Geschichte Chiles.

Dieses Szenario politischer Spannungen wurde stets von Gewaltakten begleitet, die auch während des Sommers andauerten und erst mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 endeten. Tiefgreifende wirtschaftliche Folgen waren die Konsequenz dieser Umstände.
Die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betrug 2019 nur 1,1 Prozent, das ist der schlechteste Wert seit 10 Jahren. Die wirtschaftliche Schwäche sowie die Unfähigkeit der Regierung, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, führten dazu, dass die Quoten für die Regierung den niedrigsten Wert seit Beginn der Messungen erreicht haben.

Die Umfrage des Centro de Estudios Públicos (CEP) vom Dezember 2019 ergab, dass nur sechs Prozent der Bürger die Art und Weise, wie Präsident Sebastián Piñera die Regierung führte, billigten und 82 Prozent ablehnten.

Covid-19 und Ausnahmezustand

Am 3. März 2020 wurde in Chile der erste bestätigte Fall einer Covid-19-Ansteckung registriert. Mitte März verhängte die Regierung ihrerseits den Ausnahmezustand für einen Zeitraum von sechs Monaten. Diese Maßnahme ermöglicht es, Freizügigkeit und Versammlungsrecht sowie Eigentumsrechte einzuschränken.
Auf dieser Grundlage wurden die Grenzen geschlossen, nächtliche Ausgangssperren auf nationaler Ebene verhängt und Quarantänemaßnahmen angeordnet. Der Staat übernahm die Kontrolle über die Verwaltung der Krankenhäuser in öffentlichen und privaten Einrichtungen. Des Weiteren wurde die Schließung aller Bildungseinrichtungen beschlossen. Als Reaktion darauf führten diese Fernlehrsysteme ein.

Auch das ursprünglich für den 26. April geplante Referendum musste auf den 25. Oktober 2020 verschoben werden.

 Nach dem Verfassungsreferendum wird ein neuer Sozialpakt für Chile entworfen: Im April 2021 werden die Chilenen die Delegierten bestimmen, die dann die neue Verfassung vorbereiten werden. Danach werden die Bürger wiederum in einem Referendum über den Entwurf  entscheiden.

Nach dem Verfassungsreferendum wird ein neuer Sozialpakt für Chile entworfen: Im April 2021 werden die Chilenen die Delegierten bestimmen, die dann die neue Verfassung vorbereiten werden. Danach werden die Bürger wiederum in einem Referendum über den Entwurf entscheiden.

Christine Reiser

Das Referendum

Eine Gesundheits- und eine tiefe Wirtschaftskrise sind das Umfeld, in dem das Referendum stattfinden sollte. Chile ist mit 500 000 Infizierten und 14 000 Todesfällen im Verhältnis zu seiner Bevölkerung von nur 18 Millionen Einwohnern eines der am stärksten betroffenen Länder in der Region Lateinamerika. Die Maßnahmen gegen die Pandemie und sonstige Beschränkungen haben sich wiederum stark auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsindizes ausgewirkt. Letztgenannte sagen kurz- und mittelfristig ein sehr komplexes Szenario vorher.

Der Wahlkampf wurde vor dem Hintergrund weitreichender Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und des Versammlungsrechts durchgeführt. Es war eine Kampagne, die hauptsächlich in den sozialen Netzwerken stattfand. Dabei ging es weniger um Ideen und Inhalte, sondern mehr um das Verstärken polarisierender Ansichten aus der Vergangenheit und die Förderung von Ängsten aus den Erfahrungen von Verfassungsgebenden Versammlungen in anderen Ländern der Region.

Am Sonntag, den 25. Oktober 2020, waren 14,8 Millionen Chileninnen und Chilenen sowie 60 000 wahlberechtigte Ausländer aufgefordert, ihre "Zustimmung" oder "Ablehnung" zur Erarbeitung einer neuen Verfassung kundzugeben.
Für den Fall eines mehrheitlichen Votums für eine neue Verfassung mussten sie wiederum entscheiden, welches Organ diese Aufgabe erfüllen soll: „Convención Mixta“ (Gemischte Versammlung), die sich zu 50 Prozent aus von den Bürgern gewählten Mitgliedern und zu 50 Prozent aus Parlamentariern zusammensetzt oder „Convención Constituyente“ (Verfassungsgebende Versammlung), die sich ausschließlich aus von den Bürgern gewählten Mitgliedern zusammensetzt.

Obwohl es zu erwarten war, dass sich die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für eine neue Verfassung ausspricht, war der Sieg mit 78,27 Prozent der Stimmen überraschend. Des Weiteren entschied sich die wahlberechtigte Bevölkerung mit 78,99 Prozent der Stimmen mehrheitlich für die "Convención Constituyente", also die Verfassungsgebende Versammlung. Eine weitere wichtige Tatsache war die Teilnahme von 50,85 Prozent der potentiellen Wählerschaft. Dieser Prozentsatz ist zwar niedrig, stellt jedoch die höchste Wahlbeteiligung seit 2002 dar.

Chile stimmt für eine neue Verfassung

Die chilenischen Bürger werden am 11. April 2021 die 155 Delegierten wählen, die einen neuen Verfassungstext vorbereiten werden. Die gewählten Delegierten werden ihre Arbeit im Mai aufnehmen und müssen ihren Auftrag innerhalb von neun Monaten mit der Möglichkeit einer Verlängerung um drei Monate erfüllen.
Anschließend wird der Textentwurf einem Referendum unterzogen, damit die Bevölkerung den von der konstituierenden Sitzung vorgeschlagenen Text genehmigen oder ablehnen kann.

Die Covid-19-Pandemie und deren Herausforderungen fallen mit einem Prozess zusammen, in dem die chilenische Gesellschaft einen neuen Sozialpakt anstrebt. Dieser Sozialpakt wird als politisch-institutioneller Rahmen für die kommenden Jahrzehnte dienen.
Der Inhalt einer neuen Grundcharta, die aus einem demokratischen Prozess hervorgeht, wird den Grundstein für eine notwendige politische und soziale Legitimation legen, um künftigen Herausforderungen besser begegnen zu können.

Die künftige Rolle des Staates

Im Rahmen der Debatte über den politisch-institutionellen Rahmen wird der Rolle des Staates besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Einer der Hauptkritikpunkte am bisherigen chilenischen Entwicklungsmodell liegt in der Zurückhaltung, mit der die subsidiäre Rolle des Staates interpretiert und umgesetzt wurde, insbesondere in Bezug auf Bildung und soziale Sicherheit. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass dem Staat eine Rolle gemäß den Grundsätzen einer sozialen Marktwirtschaft zukommt. Dies bedeutet, dass der Staat nicht nur die Bedingungen für eine angemessene Entwicklung privater Akteure fördert, sondern auch eine proaktive Rolle übernimmt und ausreichende und zeitnahe Interventionen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Renten ermöglicht.

Um den sozialen Zusammenhalt im Land zu stärken, muss im chilenischen Entwicklungsmodell ein höheres Maß an Solidarität angestrebt werden, das Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. In diesem Zusammenhang muss der Staat sicherstellen, dass Bildung ein Instrument ist, das Chancengleichheit wirklich fördert, Einkommensunterschiede verringert und eine gerechte Verteilung des Wohlstandes gewährleistet und erhöht.

Schließlich wird die Qualität der öffentlichen Programme und ihre effiziente und rechtzeitige Umsetzung von entscheidender Bedeutung sein, um angemessene Antworten auf die komplexen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zukunft zu geben. In diesem Zusammenhang müssen die Modernisierungsagenda des Staates und der Dezentralisierungsprozess vorangetrieben werden, da eine bessere Verwaltung der öffentlichen Einrichtungen direkte Auswirkungen auf die Gerechtigkeit, die Überwindung der Armut und den Sozialschutz hat.

Zur Information
Ansätze der Hanns-Seidel-Stiftung

Die Projektarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung begleitet und fördert diese Debatten über die notwendigen Reformen in Chile. Insbesondere wird der Austausch von Ideen und Erfahrungen gefördert, um stärkere Akzente einer sozialen Marktwirtschaft im Entwicklungsmodell zu ermöglichen.

Des Weiteren besteht die Projektarbeit in der politischen Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen, die ihnen das theoretische Wissen und die praktischen Werkzeuge vermittelt. Durch die Maβnahmen zur Bildung junger Menschen sollen die neuen Generationen motiviert werden, an den großen Veränderungen, die Chile benötigt, mitzuarbeiten und sie voranzutreiben.

Chile
Jorge Sandrock
Projektleitung
Lateinamerika
Esther J. Stark
Leiterin
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