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Tunesien
In der Sackgasse

Autor: Uta Staschewski

Seit langer Zeit befindet sich Tunesien in einer wirtschaftlichen Krise. Nun gab es im Januar 2023 Proteste gegen Staatsverschuldung, hohe Steuern und Inflation. Unsere Repräsentantin vor Ort analysiert die aktuelle Situation und führte ein Interview mit Maher Boubaker el-Hadri, einem künftigen Parlamentsabgeordneten.

Tausende Menschen sind im Januar 2023 (1) auf die Straße gegangen, um gegen die Regierung von Präsident Kais Saied zu demonstrieren. Zwar sind die Demonstrationen von Oppositionsparteien und Nichtregierungsorganisationen organisiert, inhaltlich sind die Demonstranten jedoch gespalten: Einige, hauptsächlich der Mittelschicht angehörende Tunesier prangerten Einschnitte in die Pressefreiheit an. Der Mehrheit geht es nicht in erster Linie um politische Freiheiten und Demokratie (2). Der überwiegende Teil der Menschen ist verärgert, wütend, verzweifelt über die wirtschaftliche Situation, die sich zu einer andauernden Krise entwickelt hat (3). Was sagt das über den demokratischen Transitionsprozess in Tunesien aus?

 Im Januar 2023 protestierten viele Tunesier gegen Präsident Kais Saied.

Im Januar 2023 protestierten viele Tunesier gegen Präsident Kais Saied.

Houcemmzoughi; (CC BY-SA 4.0); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:President_Kais_Sa%C3%AFed_cropped.jpg

Beispiellose Finanzkrise, begrenzte Handlungsoptionen der Regierung und niemand möchte unpopuläre Entscheidungen treffen

Die sozioökonomische Krise ist das dringende, tiefgreifende Problem, mit dem Tunesien konfrontiert ist, und das schon seit Jahren. Seit der Revolution sind die Staatsausgaben exponentiell angestiegen. Die Staatsverschuldung liegt mittlerweile bei über 80 Prozent des BIP und die Tendenz ist weiter steigend. Tunesien hatte in den vergangenen zehn Jahren keine vorausschauende, investitionsfördernde Wirtschaftspolitik. Es wurden keine notwendigen Reformen umgesetzt. Es ging primär um kurzfristige, schnelle Lösungen ohne Weitblick. Es regierte das „Prinzip Hoffnung“, Hoffnung darauf, dass sich das Problem irgendwie von selbst lösen werde.

Im Oktober 2022 konnte sich die Regierung mit dem IWF (Internationaler Währungsfonds) auf ein Rettungspaket in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar einigen. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass Tunesien selbst auf den IWF zugehen musste, weil es keine anderen Optionen mehr gab. Niemand mehr möchte Tunesien Geld leihen, weil die Prognosen ohne drastische Reformen schlecht bleiben.

Als Bedingung sollen Reformen durchgeführt werden, darunter der schrittweise Abbau von Subventionen für Lebensmittel und Strom sowie die Umstrukturierung öffentlicher Unternehmen. Im Gegenzug sollen direkte Sozialleistungen gezielt an Bedürftige gezahlt werden. Tunesien kann sich Subventionen nach dem „Gießkannenprinzip“ angesichts der steigenden Energiepreise und seiner Exportabhängigkeit schlichtweg nicht mehr leisten.

Laut dem vom Wirtschaftsministerium im Dezember veröffentlichten Haushaltsplan für 2023 will Tunesien die Ausgaben für Subventionen um 26,4 Prozent senken. Die Regierung beabsichtigt darüber hinaus, die Steuereinnahmen um 12,5 Prozent zu erhöhen, wobei der Steuersatz für einige Sektoren von 13 Prozent auf 19 Prozent steigen soll. Damit steigt die Steuerlast für den durchschnittlichen Tunesier in einer Situation, in der es der Wirtschaft generell schlecht geht. Die Steuerquote Tunesiens ist mit 32,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts die höchste auf dem afrikanischen Kontinent (4).

Die tunesische Arbeitergewerkschaft UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) hat bereits erklärt, dass sie den Finanzplan ablehnen werde, sollte er verabschiedet werden. Soziale Unruhen sind garantiert, zumal die Tunesier bereits mit der Inflation zu kämpfen haben, die im letzten Monat den Rekordwert von 9,8 Prozent erreicht hat. Dabei ist zu beachten, dass dieser Wert ohne die Subventionen auf Benzin und Nahrungsmittel noch weitaus höher wäre. Die einflussreiche Gewerkschaft geht nach dem gewohnten Schema vor: unpopuläre, aber notwendige Reformen ablehnen, keinerlei Kompromissbereitschaft in Bezug auf die Frage der Staatsausgaben und die dringend notwendige Reform der Staatsbetriebe zeigen wollen. Der von der UGTT und anderen einflussreichen Organisationen der Zivilgesellschaft initiierte nationale Dialog soll alle Beteiligten an einen Tisch bringen und Lösungen suchen. Es gibt aber keine Lösung, die den Erwartungen der Bevölkerung entsprechen kann. Der Staat hat aufgrund der hohen Verschuldung keinerlei Handlungsspielraum mehr und kann aus dieser Sackgasse nur mit sehr unpopulären Reformen herauskommen. Hierfür möchte keiner der Akteure die Verantwortung übernehmen. Der eigentliche Verantwortliche - Präsident Kais Said – nimmt die Verantwortung nicht an. Er hat zwar ein System kreiert, das auf ihn zugeschnitten ist, aber auch er wagt es nicht, die unpopulären Maßnahmen zu beschließen. Also lenkt er von den Problemen ab. Bei Kritik schiebt er die Verantwortung auf die (von ihm nominierte) Regierung und beleidigt die Demonstranten, wie auch andere Gegner, als korrupt, Verräter und Volksfeinde.

Es gibt keine offene, konstruktive politische Debatte, die verschiedene Lösungsoptionen hervorbringen und vielleicht zu mehr Verständnis und Zustimmung in der Bevölkerung führen könnte. Stattdessen weist man sich gegenseitig die Schuld zu. Nun gibt es zwar einen Entscheider an der Spitze, der alles bestimmen könnte, dies aber nicht tut, weil das womöglich sein Ende wäre. Die Legitimität des Präsidenten beruht nämlich nur auf der Unterstützung der Bevölkerung: Als Außenseiter regiert er außerhalb und ohne die Unterstützung etablierter Machtstrukturen, wie z. B. der UGTT.

Zentralbankchef Marouane Abassi sagte bei einer Pressekonferenz, dass Tunesien nur wenige Instrumente zur Bekämpfung der Inflation habe. „Die Inflationsraten könnten außer Kontrolle geraten, wenn der Leitzins nicht angehoben wird“, „Die Situation wird schwierig, wenn Tunesien keine Einigung mit dem Internationalen Währungsfonds erzielt“, sagte er (5). Unruhen in der Bevölkerung erhöhen den Druck auf die Regierung von Präsident Saied, der sich nach der von seinen Gegnern als Putsch bezeichneten Machtübernahme einer wachsenden Opposition gegenübersieht. Wahrscheinlich wollte er die Methode aus dem alten Rom anwenden: vorübergehende Übernahme absoluter Macht, um die Gesellschaft aus der Krise zu führen (6).

Niemand kennt die Pläne von Präsident Kais Saied. Er bezeichnet sich als gewählter Präsident, der nach wie vor von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. In den vergangenen Monaten hat er in erster Linie seinen Willen gezeigt, die Unterstützung der Bevölkerung zu nutzen, um die Macht in seinen Händen zu konzentrieren und Tunesiens Demokratie zu schwächen. Es ist ein „der Demokratie innewohnendes Paradoxon, dass sich eine charismatische Führung mit Unterstützung der Mehrheit manchmal als antidemokratisch erweist“ (7). Eine prodemokratische Führung „spielt eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung einer demokratischen Bürgerschaft. Fortschritte auf dem Weg zu einer Demokratie hängen von der wechselseitigen Beziehung zwischen dem Führungsstil, den Eigenschaften der Bürgerschaft und den gesellschaftlichen Merkmalen ab“ (8).

Das Fußballspiel Kroatien gegen Marokko bei der Weltmeisterschaft am 17. Dezember 2022 endete mit einer Niederlage für die Mannschaft aus dem arabischen Nachbarland, gerade zu jenem Zeitpunkt als die Wahllokale in Tunesien geschlossen wurden. Die Solidarität mit dem marokkanischen Team war groß, nachdem das tunesische Team ausgeschieden und Marokko das letzte verbliebene Team aus dem arabischen Raum im Turnier war. Die große Begeisterung für die Fußball-WM stand im starken Kontrast zum mangelnden Interesse der Tunesier an der Parlamentswahl. Nach Schließung der Wahllokale wurde eine vorläufige Wahlbeteiligung von historisch niedrigen 8,8 Prozent bekanntgegeben, die zwei Tage später auf immer noch niedrige 11,2 Prozent korrigiert wurde. Die endgültigen Ergebnisse des ersten Wahlgangs, bei dem 23 Kandidaten, davon drei Frauen, der Einzug ins Parlament gelang, wurden am 15. Januar 2023 veröffentlicht. Kandidaten von 131 der insgesamt 161 Wahlkreise konnten zwar die Stimmenmehrheit in ihrem Wahlkreis, aber nicht die absolute Mehrheit erlangen und müssen zur Stichwahl erneut antreten.

Diese fand am 29. Januar 2023 statt und erzielte eine Wahlbeteiligung von 11,3 Prozent, so gab es die nationale Wahlkommission (Instance supérieure indépendante pour les élections) am Wahlabend bekannt.

Warum sind die Tunesier der Wahl ferngeblieben? Aus demselben Grund, warum sie am 14. Januar auf die Straße gegangen sind: Das System „liefert nicht“, auch nicht nach 17 Monaten Rückschritt in die Diktatur. Für die Mehrheit der Tunesier hat die Lösung wirtschaftlicher Probleme eine höhere Priorität als die Sicherung der mit einer Demokratie verbundenen politischen Rechte und Freiheiten (9).

Der demokratische Konsolidierungsprozess in Tunesien

Der demokratische Konsolidierungsprozess ist ein langfristiger Wandlungsprozess, der Rückschritte miteinschließt. Die erforderlichen individuellen und kollektiven Bewusstseinsänderungen (kulturelle Sozialisierung) sind schlichtweg nicht kurz oder mittelfristig zu erreichen. Was Beobachter in Tunesien oft als revolutionäre demokratische Durchbrüche interpretiert haben, waren nur erste, limitierte, zaghafte Schritte in Richtung einer noch sehr schwachen Form der Demokratie. Dass dieser Fortschritt weitergeht, ist nicht garantiert. Demokratie ist ein komplexes, auf langwieriger Entwicklung beruhendes Konzept, das sich nicht eins zu eins übertragen oder kopieren lässt. Das Ausmaß, die Formen und die Art und Weise, wie grundlegende Indikatoren in der Praxis ausgedrückt und umgesetzt werden, können von Land zu Land variieren (10). Der politische Wandel braucht Zeit und die Transitionsphase ist wichtiger als die Revolution selbst. Revolutionen gegen eine Diktatur enden auch oft in einer Diktatur in anderer Form (11).

Charakteristisch für die MENA-Region ist darüber hinaus, dass die Menschen aufgrund ihrer Sozialisierung und der geschichtlich geprägten Kulturpsychologie über bestimmte kulturelle Grundwerte verfügen, die gesellschaftliche Strukturen anders geprägt haben als in westlichen Kulturen. Persönliche Attribute, individuelle Errungenschaften, die Zugehörigkeit zu abstrakten Gruppen, wie programmatischen politischen Parteien, haben in den Ländern der MENA-Region überwiegend weniger Gewicht als persönliche Beziehungen, vererbte soziale Rollenmuster und von familiären und direkten Kontakten geprägte Gemeinschaften. Die Erkenntnis, dass es bei Demokratie um das Gemeinwohl der Gesellschaft geht und weniger um Partikularinteressen, hat sich noch nicht etabliert.

Demokratische Werte müssen Teil des kollektiven Narrativs werden (12)

Das Erreichen eines Regimewechsels ist nur der Anfang der Arbeit und bedeutet nicht, dass ein Systemwechsel stattgefunden hat. Im Zentrum des Transitionsprozesses muss deshalb die Unterstützung von Menschen stehen, Interesse an gesellschaftspolitischen Themen zu entwickeln, Verständnis für Entwicklungsdynamiken zu erwerben, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen, demokratische Prozesse einzuüben und zu durchlaufen, um damit die tiefere Kontinuität des „alten Systems“ aufzubrechen und einen Transformationsprozess aktiv mitzugestalten. 

Das nachstehende Interview ist ein Beispiel dafür.

Maher Boubaker el-Hadri sitzt auf einem Stuhl vor einem bauen Hintergrund.

Maher Boubaker el-Hadri war Bürgermeister der Gemeinde El Mourouj, südlich der Hauptstadt Tunis. Er weiß bereits, dass er als Abgeordneter ins Parlament einziehen wird: “Ich glaube, dass wir derzeit einen Umbruch erleben, vor allem im Hinblick auf die Rolle des Politikers bzw. Abgeordneten und seiner Beziehung zu den Bürgern.”

Bigshot Productions; HSS

Maher Boubaker el-Hadri, ehemaliger Bürgermeister der Gemeinde El Mourouj, südlich der Hauptstadt Tunis, gehört zu den wenigen Kandidaten, die bereits nach der ersten Runde der Wahlen als Abgeordneter ins Parlament einziehen. Vor seiner Mandatsübernahme hat sich der ehemalige Kommunalpolitiker zivilgesellschaftlich engagiert und unterschiedliche gemeinnützige Aktivitäten in seiner Region umgesetzt. Als gewählter Bürgermeister hat er eng mit dem Zentrum für Demokratie, Bürgerschaft und Entwicklung (CD²) in Ben Arous zusammengearbeitet. 

Als eines von fünf Zentren, die von der HSS in unterschiedlichen Regionen Tunesiens (Ben Arous, Nabeul, Sidi Bouzid, Kef und Sfax) gefördert wurden, hat das Zentrum Ben Arous seit 2017 Kommunalpolitiker mit Akteuren der Zivilgesellschaft und der lokalen Bevölkerung zusammengebracht. In den Dialogräumen wurden Ideen und Initiativen generiert und aktiv in die Kommunalpolitik eingebracht sowie effektive und schnelle Lösungen für lokale Herausforderungen eingefordert und mitgestaltet. Im Mittelpunkt der Arbeit des Zentrums stand die Förderung von Eigenverantwortung, individueller und kollektiver Gestaltungskraft sowie Netzwerkbildung. In den vergangenen fünf Jahren wurden Sach- und Handlungskompetenzen in den Bereichen gute Regierungsführung, Beschäftigung, Wirtschaft sowie Umwelt vermittelt. An den Projektmaßnahmen des Zentrums hat auch Maher Boubaker el-Hadri teilgenommen. Er erzählt im folgenden Interview von seiner Erfahrung als Kandidat bei den Parlamentswahlen und teilt seine Einschätzungen zu den politischen Entwicklungen in Tunesien und seine Visionen für die zukünftige Rolle als Abgeordneter.

HSS: Bitte stellen Sie sich vor:

Ich heiße Maher Boubaker El-Hadri, bin 33 Jahre alt und habe einen Master in Physik. Nach meinem Masterabschluss bin ich nach Paris gezogen, um dort zu promovieren. Das letzte Jahr der Promotion fiel allerdings in die gleiche Zeit wie die Kommunalwahlen in Tunesien, deswegen konnte ich sie nicht abschließen. 

(...) 2017 ist das Jahr, in dem ich beschloss, auf einer Liste junger, unabhängiger Kandidaten, die von Veränderungen auf lokaler Ebene träumen, zu den Kommunalwahlen anzutreten. Trotz der Präsenz zahlreicher Parteien in Ben Arous (…) haben wir versucht, etwas zu bewirken (...). Wir [mein Team und ich] wurden die zweitstärkste Kraft und so kandidierte ich für das Amt des Bürgermeisters. 

In diesem Zeitraum hat das Land viele Veränderungen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene erlebt. Die Bürger fingen an, das Vertrauen in die gesamte politische Klasse zu verlieren. Das hat zum Erfolg zahlreicher unabhängiger Kandidaten bei den Kommunalwahlen geführt und Veränderungen der politischen Szene sowie des aktuellen politischen Gleichgewichtes bewirkt. Dazu beigetragen haben auch die sozialen Medien, mithilfe derer die unabhängigen Kandidaten Wahlkampf betrieben. Sie [die sozialen Medien] haben eine große Rolle bei der Herausbildung dieser neuen politischen Akteure gespielt.

Im Rahmen meiner kommunalen Arbeit habe ich den lokalen Ausschuss für partizipative Demokratie und offene Regierungsführung geleitet. Durch die vielen Sitzungen, die Vertreter unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen zusammengebracht haben, konnte ich den Bürgern näherkommen.

HSS: Welche Rolle hat die Zivilgesellschaft bei Ihrer persönlichen Entwicklung gespielt?

Mein zivilgesellschaftliches Engagement in unterschiedlichen Vereinigungen und Organisationen hat mir wesentlich geholfen, zahlreiche Fähigkeiten auf persönlicher und beruflicher Ebene zu entwickeln. Nehmen wir als Beispiel das Zentrum für Demokratie, Bürgerschaft und Entwicklung in Ben Arous. Seit ich Marwen Abidi, den Leiter des Zentrums kenne, diskutieren wir Möglichkeiten, um eine Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen regionalen Akteuren (…) zu erreichen. Das Zentrum ist ein Inkubator für viele Vereine und Aktivisten in der Region, insbesondere für diejenigen, die nicht über ausreichende Ressourcen oder einen Arbeitsplatz verfügen. Es bringt Menschen mit Ideen, Geberorganisationen und Aktivisten zusammen, um ein effektives Netzwerk zu schaffen, das Lösungen für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Region erarbeitet. Ich habe an zahlreichen Aktivitäten und Projekten des Zentrums, insbesondere an den Aus- und Fortbildungen, teilgenommen. Dank ihnen bin ich heute Spezialist in den Bereichen Dezentralisierung und gute Regierungsführung und habe selbst zahlreiche Teilnehmer des [vom Zentrum angebotenen] Programms „Schule für Regierungsführung“, das in der Region große Erfolge verzeichnete, ausgebildet. Viele der Absolventen dieser Schule haben an den Kommunalwahlen teilgenommen. 

Dem Zentrum ist es gelungen, eine konstruktive Dynamik zu schaffen, indem es unterschiedliche Akteure befähigt, ihre Talente zu entdecken, ihre Ideen weiterzuentwickeln und eigene Projekte [zugunsten der Region] zu entwerfen. 

(…) Wir bedauern sehr, dass das Zentrum seine Pforten schließt, aber wir freuen uns auch auf die digitale Version des Projektes. Ich freue mich, weil wir dank der Bemühungen vieler Akteure, insbesondere des Zentrums, ein Netzwerk von Vereinen in Ben Arous aufbauen konnten.

HSS: Aus welchen Beweggründen kandidierten Sie für die Parlamentswahlen?

Seit den vorausgegangenen Parlamentswahlen hat die politische Klasse zunehmend das Vertrauen der Bürger verloren. Die Krise hat sich nach den Auseinandersetzungen im Parlament zwischen den Abgeordneten ausgeweitet und durch die anhaltende Krise zwischen dem Regierungschef und dem Präsidenten verstärkt. 

Ich persönlich habe niemanden gefunden, der mich repräsentiert oder meine Ziele zum Ausdruck bringt. Daher konnte ich keiner der Parteien beitreten, denen es an klaren wirtschaftlichen und sozialen Programmen fehlt. Das hat mich dazu bewegt, (…) zunächst für die Kommunalwahlen und anschließend für die Parlamentswahlen zu kandidieren.

Ich habe mich entschieden, als unabhängiger Kandidat zu kandidieren und keine Partei zu gründen, da ich glaube, dass es neue Formen der Organisation gibt, die eine Lösung der seit 2011 anhaltenden politischen Krise sein können. Heutzutage ist es deutlich einfacher, direkt mit den Bürgern zu kommunizieren, ohne sich in einer Partei zu engagieren.

Wie bewerten Sie die Ereignisse nach dem 25. Juli 2021?

Ich hatte die Gelegenheit, zweimal zu kandidieren, einmal vor dem 25. Juli 2021 bei den Kommunalwahlen und zum zweiten Mal bei den Parlamentswahlen, [also nach dem 25. Juli]. Ich glaube, dass wir derzeit einen Umbruch erleben, vor allem im Hinblick auf die Rolle des Politikers bzw. Abgeordneten und seiner Beziehung zu den Bürgern. 

Ich hatte z. B. große Schwierigkeiten – und damals war ich Bürgermeister von Morouj – mit den Abgeordneten der Region in Kontakt zu treten. Stellen Sie sich vor, wie schwierig es für den normalen Bürger sein muss, obgleich die Gemeinde Ben Arous vor zahlreichen Problemen steht. Die Listenwahl des alten Wahlsystems hat es den Bürgern nicht ermöglicht, die Probleme ihrer Region zu kommunizieren bzw. die gewählten Abgeordneten zur Verantwortung zu ziehen (13). 

Darüber hinaus gab es zahlreiche weitere Probleme, unter denen das alte Wahlsystem gelitten hat. Wie kann es sein, dass z. B. ein Kandidat für das Gouvernorat Kef in einem anderen Gouvernorat lebt? Für diesen Kandidaten ist es extrem schwierig, die Probleme der Region, die er vertritt, zu kennen. Im Gegensatz dazu steht das neue Wahlgesetz (14). Es macht diesem Prinzip ein Ende und ermöglicht es den Bürgern, Menschen aus der Region zu wählen, mit denen sie in ständigem Kontakt stehen.

Das Wahlkreisprinzip, das dem neuen Wahlgesetz zugrunde liegt, sieht vor, dass jeder seine Region im neuen Parlament vertritt. Mag sein, dass dieses neue Wahlgesetz mit einigen Problemen behaftet ist, aber die Gesetzesänderung ist nicht gekommen, um einen reibungslos funktionierenden Weg zu schaffen, sondern sie ist eine politische Lösung, um mit zahlreichen Problemen, insbesondere auf politischer Ebene, zu brechen. Dieser neue Weg hat es einem jungen Menschen wie mir ermöglicht, zu kandidieren und letztlich auch zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass ich angesichts des alten Wahlgesetzes oder der [damals noch zulässigen] Parteienfinanzierung die gleichen Erfolgschancen gehabt hätte.  

Das Problem in Tunesien war nicht das politische System, sondern die Mentalität der Politiker, die ausschließlich am Erhalt ihrer Macht interessiert waren.

HSS: Wie bewerten Sie die geringe Wahlbeteiligung bei den aktuellen Parlamentswahlen?

Ich glaube nicht, dass sich der tunesische Bürger von heute für das politische Leben oder diejenigen, die ihn vertreten, interessiert. Die Wirtschaftskrise und insbesondere der Mangel an Grundnahrungsmitteln hat die Kluft zwischen den Politikern und den Bürgern vertieft.

(…) Die niedrige Wahlbeteiligung ist Folge des gesamten Prozesses seit 2011 und der unterschiedlichen Krisen, insbesondere der Wirtschaftskrise, die das Land durchlebt (hat).

HSS: Welche Rolle wird das zukünftige Parlament spielen?

Das Parlament wird ausschließlich eine gesetzgeberische Funktion haben. (…) Man sollte dieser Institution keine größere Funktion zuweisen, als es die neue Verfassung tut. Laut Verfassung erlässt sie Gesetze und dies gemäß den Prioritäten der Öffentlichkeit und im Rahmen eines Präsidialsystems. Das Parlament in seiner neuen Form wird nicht die Lösung aller Probleme sein, aber es wird ein wichtiger Teil der Lösung sein. Als erstes sollte das Parlament mit den Gesetzesentwürfen beginnen, deren Ratifizierung verzögert wurde und aufgrund derer viele Gesetzestexte ausstehen, wie das Umweltgesetzbuch und das Investitionsgesetz.

HSS: Welche Funktion sollten Organisationen der internationalen Zusammenarbeit in der aktuellen Situation spielen, in der sich Tunesien befindet?

Organisation der internationalen Zusammenarbeit spielen in dieser Phase eine grundlegende Rolle und dank ihrer Unterstützung sind heute viele Bereiche und Institutionen aktiv. Dennoch gibt es viele Diskussionen rund um die Transparenz dieser Organisationen und darüber, ob sie sich in tunesische Angelegenheiten einmischen oder die Souveränität des Landes verletzen. Wir müssen nicht nur ihre Rolle definieren, sondern auch Mechanismen schaffen, um die Arbeit dieser Organisationen zu überwachen und zu lenken.

Seit 2011 unterstützen internationale Organisationen die Zivilgesellschaft vor Ort. Ich hoffe, dass sie ihre Arbeit zukünftig mehr in Richtung Sozial- und Solidarwirtschaft, grüne Wirtschaft und insbesondere auf Umweltprobleme ausrichten. Heute stellen Umweltprobleme eine der wichtigsten Herausforderungen auf nationaler und internationaler Ebene dar. Ich denke, es reicht aus, was die internationalen Organisationen getan haben, um den demokratischen Prozess in Tunesien zu unterstützen. Wir befinden uns heute in einem demokratischen Land und es gibt kein Zurück mehr. Tatsächlich denke ich, dass es andere Prioritäten gibt, an denen in Tunesien gearbeitet werden muss. Ich bin davon überzeugt, dass die Zivilgesellschaft bereiter denn je ist, um auf die unterschiedlichen Ziele hinzuarbeiten.

Vielen Dank, Herr Maher Boubaker el-Hadri.

Das Interview hat Mariem Aouadi, Projektkoordinatorin im Büro Tunis geführt. Aus dem Arabischen übersetzt und kommentiert wurde das Interview von Louisa Serghini, Programmmitarbeiterin im Büro Tunis.

(1) Präsident Kais Saied hatte per Dekret das offizielle Datum des Jahrestages der Revolution mit der Begründung geändert, dass er den 1. Januar als einen Moment betrachte, in dem die Revolution auf Abwege geraten sei.

(2) Amaney Jamal and Mark Tessler, The Democracy Barometers - Attitudes in the Arab World, July 2005 issue of the Journal of Democracy: “On the other hand, when asked to identify the most important factors that define a democracy, about half the respondents emphasized economic considerations rather than political rights and freedoms.”

(3) Siehe auch: https://directinfo.webmanagercenter.com/2022/12/29/sondage-emrhod-consulting-le-pouvoir-dachat-preoccupation-majeure-des-tunisiens/

(4) Siehe OECD Revenue Statistics Africa 2022: www.oecd.org/tax/tax-policy/revenue-statistics-africa-tunisia.pdf

(5) Siehe https://www.reuters.com/world/africa/tunisias-cbank-governor-says-inflation-average-11-2023-up-83-2022-2023-01-04/

(6) Location 241, Fathali M. Moghaddam, The Psychology of Democracy

(7) Location 1079 ebenda

(8) Location 1079 ebenda

(9) Siehe auch Arab Barometer VII 2022: Tunisians are also clear on the limitations of this political system, with two-thirds majorities agreeing that under democracy economic performance is weak and that democracy is indecisive and full of problems.

(10) Für die Beschreibung des Fortschritts von Demokratien wird auf Indikatoren, die die Funktionsqualität von Demokratien beschreiben, zurückgegriffen. Für deren qualitative Bewertung gibt es mehrere Indizes, darunter den Demokratieindex der Zeitschrift Economist, das Democratic Audit der Organisation IDEA[4] und der Freedom House Index.

(11) Fathali M. Moghaddam, The Eternal Magnetism of the Dictator: A Psychological Analysis, https://www.youtube.com/watch?v=txDLfDK0O60

(12) Location 964, Fathali M. Moghaddam, The Psychology of Democracy

(13) Das alte Wahlgesetz von 2014 wurde durch das Dekret Nr. 2022-55 modifiziert, welches vorsieht, dass Wähler ihre Abgeordneten fortan individuell wählen können und diese aus dem Wahlkreis stammen müssen, für den sie kandidieren. Um sich als Kandidat aufstellen lassen zu können, muss eine namentliche und von den Behörden legalisierte Liste mit 400 Wählern (Patenschaften) des entsprechenden Wahlkreises eingereicht werden. Diese muss sich zu jeweils 50 Prozent aus Frauen und Männern zusammensetzen, von denen 25 Prozent unter 35 Jahre alt sind. Einmal ins Parlament eingezogen, kann den Abgeordneten das Vertrauen entzogen werden, wenn ein Misstrauensantrag von einem Zehntel der Wähler des entsprechenden Wahlkreises vorliegt. Stimmt die absolute Mehrheit der Wähler für den Vertrauensentzug wird der betreffende Abgeordnete seines Amtes entzogen und der entsprechende Parlamentssitz gilt als vakant. Im Rahmen von Neuwahlen muss dieser innerhalb von höchstens drei Monaten neu besetzt.

(14) Per Dekret 2022-55 erließ Präsident Kais Saied am 15. September ein neues Wahlgesetz. Zu den bedeutendsten Änderungen zählen u. a. die Abschaffung der Listenwahl zugunsten der Personenwahl, die Verkleinerung der ursprünglich 33 Wahlkreise, das Verbot der öffentlichen Finanzierung von Wahlkampagnen, die Reduzierung der Abgeordnetensitze (217) auf die Anzahl der neuen Wahlkreise (161), die Abschaffung der Geschlechterparität sowie die Möglichkeit der Wähler, ihren Abgeordneten das Vertrauen zu entziehen.

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Projektleiterin: Uta Staschewski
Tunesien
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