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Politische Bildung und die deutsche Wiedervereinigung
Wir waren vorbereitet

Am Abend des 9. November 1989 wurde die Nachricht verbreitet, die Berliner Mauer sei nun auch von Ost nach West passierbar, ja dass sogar „die ständige Ausreise ... über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen“ könne, so das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski. Der Zeitpunkt und besonders die schnelle Entwicklung waren wohl für alle – auch in der Hanns-Seidel-Stiftung – überraschend. Unvorbereitet war die Stiftung aber nicht.

Schon lange vor dem Fall der Berliner Mauer und der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 war eben die „Wiedervereinigung“ einer der Themenschwerpunkte in allen Jahresprogrammen des Bildungswerks der Hanns-Seidel-Stiftung. Dabei wurde der Begriff der „Wiedervereinigung Deutschlands“ vorsichtig gebraucht. Das hieß dann eher „Gesamtdeutsche Thematik“.

Berlin am 03.10.1990, deutsche Vereinigung, vor dem Reichstag.

Berlin am 03.10.1990, deutsche Vereinigung, vor dem Reichstag.

Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-400 / Grimm, Peer /; CC-BY-SA 3.0; wikimedia

Deutschlandpolitische Seminare vor der Wiedervereinigung

Und auch dieser Begriff war nicht unumstritten. Wer heute die Bilder des nationalen Überschwangs vom November `89 sieht, der verliert allzu leicht aus den Augen, dass bis dahin die politische Stimmung einer Wiedervereinigung, die ohnehin nicht klar definiert war, eher ablehnend gegenüberstand. Die Teilung Deutschlands wurde von einem Großteil der Medien und einem noch größeren Teil der Intellektuellen als durchaus verdient angesehen, sozusagen als Strafe der Siegermächte für den von Deutschland angezettelten Weltkrieg. Wer sich dieser gerne von der politischen Linken vertretenen Position nicht anschließen mochte, der konnte auch die Teilung als „Siegerjustiz“ abtun, gleichwohl als unabänderlich hinnehmen. Im ersten Kabinett Adenauer 1949 gab es ein „Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen“, kurz „Gesamtdeutsches Ministerium“, geführt von Jakob Kaiser, das aber von der SPD-FDP-Koalition 1969 in „Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen“ unbenannt wurde. Nicht mehr die staatliche Einheit Deutschlands war das Thema, sondern die Beziehungen der Deutschen zueinander, quasi unter nahen Verwandten. 

Die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung hat sich immer diesem intellektuellen Trend widersetzt und wusste sich dabei in vollem Einklang mit der CSU, die in den zwei Jahrzehnten vor 1989 in zunehmender Vereinsamung für die Wiedervereinigung stritt. Im Feld der politischen Bildung war die Hanns-Seidel-Stiftung aber nicht alleine. Einige andere, deutlich kleinere Organisationen wie zum Beispiel die zunächst als „Volksbund für Frieden und Freiheit“ gegründete spätere „Arbeitsgemeinschaft Staat und Gesellschaft“ oder die „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise“ widmeten sich dem Thema. Oder das 1954 in Reaktion auf den Volksaufstand in der DDR im Jahr davor gegründete „Kuratorium Unteilbares Deutschland“; es wollte möglichst viele gesellschaftliche Kräfte zusammenführen im Gedenken und Erinnern an die Einheit Deutschlands. Die Erinnerungsarbeit bestand anfangs aus mehr symbolischen Maßnahmen, wie zum Beispiel an Weihnachten Kerzen ins Fenster zu stellen; oder es wurden Stafettenläufe mit Fackeln an der Zonengrenze organisiert – immer zur Erinnerung an die Einheit Deutschlands. Doch die Wirkung solcher Aktionen versickerte bald. Die Stimmung in Westdeutschland war nicht mehr einheitsfreundlich. Vor allem in Bayern wandte sich wohl auch deshalb das Kuratorium Unteilbares Deutschland immer stärker der politischen Bildung zu.

Das Grenzdenkmal Görsdorf umfasst einen Teilbereich der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Bayern.

Das Grenzdenkmal Görsdorf umfasst einen Teilbereich der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Thüringen und Bayern.

Heigeheige; CC BY-SA 4.0; wikimedia

Diese Einrichtungen der politischen Erwachsenenbildung waren rechtlich selbständig, tatsächlich aber in einem Geflecht von personellen und informellen Verbindungen miteinander verwoben. Mitglieder und Vorstände, Mitarbeiter und Referenten waren in unterschiedlichen Funktionen oft in zwei oder mehreren dieser Organisationen, von denen zweifellos die Hanns-Seidel-Stiftung die größte und einflussreichste war. So war Fritz Pirkl, Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung, auch Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise (ADK), ebenso wie Christoph Röder, der Leiter des Bildungswerks der Hanns-Seidel-Stiftung. Kurt Krolopp, Referatsleiter im Bildungswerk, fungierte gleichzeitig als Geschäftsführer der ADK. Sein Nachfolger Theo Abenstein leitete lange das Referat Agrarpolitik im Bildungswerk und ist bis heute geschäftsführender Vorstand der heute noch bestehenden „Bayerischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise“.

Martin Hein war mit dem Titel „Landesbeauftragter“ der Geschäftsführer der bayerischen "Arbeitsgemeinschaft Staat und Gesellschaft“ (ASG); kurze Zeit war er auch Landesgeschäftsführer des Landeskuratoriums Bayern Unteilbares Deutschland (KUD). Der Stellvertreter des ASG-Landesbeauftragten Josef Gerhaher wechselte von der ASG zur Hanns-Seidel-Stiftung, wo er im Bildungswerk das Referat Kommunalpolitik leitete. Nach dem Ausscheiden Martin Heins aus Altersgründen wurde die ASG von dem ehemaligen Referatsleiter in der Akademie der Hanns-Seidel-Stiftung und späteren Landtagsabgeordneten Hans Gerhard Stockinger geführt. Der Autor selbst wechselte vom Kuratorium Unteilbares Deutschland zur Hanns-Seidel-Stiftung, dann zur Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, anschließend – kurz vor der Wende – wieder ins Bildungswerk der HSS. Danach wurde das KUD bis zu seiner Auflösung nach der Wiedervereinigung von Gerhard Hirscher geführt, bis heute Referatsleiter in der Akademie der Hanns-Seidel-Stiftung.

Der Kolonnenweg, auf dem die DDR-Grenztruppen entlang der Grenze patroullierten.

Der Kolonnenweg, auf dem die DDR-Grenztruppen entlang der Grenze patroullierten.

Schwirz; HSS

Bildungsziel: Wiederherstellung der Einheit Deutschlands

Ihnen gemeinsam war das Bildungsziel, über die Umstände der Teilung und den Auftrag zur Wiederherstellung der Staatlichkeit Deutschlands zu informieren. Der affektive Appell, der Einheit Deutschlands zu gedenken, geriet immer mehr in den Hintergrund gegenüber dem kognitiven Ziel der Information und Analyse – ja auch der juristischen Darstellung des Problems. Vielleicht war es kein Zufall, dass viele der damaligen Referenten bei diesen Organisationen aus einer Denkschule kamen, die ganz wesentlich von einem Nicht-Deutschen beeinflusst war. Der rumänische Exilant, ein ehemaliger Anwalt aus Bukarest, Vasile C. Dumitrescu hielt zunächst im Europahaus Schliersee und dann in einer Reihe anderer Einrichtungen, auch beim Kuratorium Unteilbares Deutschland, Seminare ab, deren oberstes Bildungsziel „Rationalität als Grundlage der politischen Bildung“ war. Die Teilung Deutschlands und seine Wiedervereinigung dienten dabei eher als Exempel, wenn auch als ein sehr geeignetes. Denn in kaum einem anderen Themenfeld vermischten sich aus Emotionen erwachsene Meinungen mit rationalen Kenntnissen und Einsichten, wobei letztere meist in einer schwierigeren Position waren. Die Idee von der fortdauernden, aber derzeit nicht realisierten Staatlichkeit Deutschlands, die wieder herzustellen Auftrag der Bundesrepublik Deutschland sei, war zwar rational vermittelbar, aber doch nur schwer mit den alltäglichen Teilungserfahrungen in Deckung zu bringen. Dennoch: In den Seminaren der Hanns-Seidel-Stiftung wurde dieses Konzept beharrlich verfolgt und – soweit sich das überhaupt messen ließ – durchaus mit Erfolg.

Die CSU war seit 1969 im Bund in der Opposition; ihre deutschlandpolitische Gegenposition zur Politik der SPD-FDP-geführten Bundesregierung stand auch gegen die öffentliche Meinung.

Unterstützung und Bestätigung der Bildungsziele erwuchs aus einer scheinbaren Niederlage. Der von der sozialliberalen Bundesregierung Ende 1972 abgeschlossene „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ stellte nach Ansicht der CSU die Anerkennung der DDR als eines zweiten deutschen Staates und somit eine Verletzung des Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes dar. Folgerichtig erhob deshalb die CSU-geführte Bayerische Staatsregierung auf Initiative und Drängen von Franz Josef Strauß eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Das Gericht wies die Klage am 31. Juli 1973 zwar ab, doch das war ein Pyrrhussieg für die Bundesregierung. Der Gewinn für die Klägerin, die Bayerische Staatsregierung, war offensichtlich die Begründung der Entscheidung. Darin hieß es, das Grundgesetz verbiete eine Anerkennung der Teilung Deutschlands und, für Regierungshandlungen besonders wichtig, das Wiedervereinigungsgebot binde alle Verfassungsorgane. Die Hanns-Seidel-Stiftung fand sich bestätigt in dem Satz aus Karlsruhe: „Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! – geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist...“.

Schnell wurden die Prozess-Dokumente dieses Verfahrens von der Akademie der Hanns-Seidel-Stiftung als 4. Band der „Berichte und Studien“ unter dem Titel „Der Streit um den Grundvertrag: eine Dokumentation“ veröffentlicht. Der Band war ein gerne verwendetes Hilfsmittel bei den deutschlandpolitischen Seminaren der Stiftung, und der Völkerrechtler Dieter Blumenwitz, der die Staatsregierung in Karlsruhe vertreten hatte, war ein gerne gehörter Referent.

Studienreisen nach Berlin und in die DDR

Parallel zu den Seminaren führte die Hanns-Seidel-Stiftung auch Studienreisen mit deutschlandpolitischem Bezug durch. Berlin-Reisen standen schon früh nach der Gründung der Stiftung im Programm, Reisen in die DDR erst später. Einige Jahre vor der Hanns-Seidel-Stiftung hatte schon die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit gemeinsam mit dem Pädagogischen Institut der Landeshauptstadt München DDR-Reisen durchgeführt. Die Planer hatten aber erst einen gehörigen Widerstand des Bayerischen Innenministeriums auszuräumen, das nämlich befürchtete, auf den Reisen könnten Mitreisende, vor allem, wenn später auch Schüler dabei wären, von den DDR-Staatsorganen als Agenten angeworben werden. Zu diesem Zeitpunkt schien das den Planern reichlich übertrieben, doch angesichts der nach der Wiedervereinigung bekannt geworden hohen Zahl an Informellen Mitarbeitern der Stasi war diese Befürchtungen vielleicht doch nicht ganz unbegründet.

Die Hanns-Seidel-Stiftung konnte die Erfahrungen der Landeszentrale und des Pädagogischen Instituts aufgreifen und selbst Reisen nach eigenen Vorstellungen und Zielen planen. Diese Reisen boten eine Fülle von Informationen, daneben wurde aber auch das Gemüt angesprochen. Schon die Grenzkontrollen der „Grenzorgane der DDR“, egal ob bei der Einreise in die DDR oder beim Übergang von West- nach Ost-Berlin, das Gefühl der permanenten Kontrolle in der DDR, der Zwangsumtausch für Ost-Berlin und vieles mehr – das war gewiss nicht angetan, Sympathien für das Regime zu wecken. Und doch kam es trotz der engmaschigen Kontrollen, auch durch die von der DDR zugewiesenen Reiseleiter, zu persönlichen Gesprächen mit „Bürgern der DDR“. Waren diese Gespräche auch erst von großer Vorsicht und Zurückhaltung geprägt, so wurden sie gegen Ende der 80er-Jahre immer offener und unvorsichtiger. Unter den Wagemutigen nahmen der Kustos des Erfurter Doms Walter Zieschang und seine Ehefrau eine herausragende Stellung ein. Da konnte es schon vorkommen, dass der vom amtlichen Reisebüro der DDR gestellte offizielle „Stadtbilderklärer“ sich weigerte, mit der Gruppe die Stufen zu Dom und St. Severi-Kirche hinaufzusteigen, um sich den mit vielen bewusst provokativen politischen Anspielungen gespickten Erklärungen der Zieschangs zu entziehen. Andernfalls wäre Meldung bei der Stasi fällig gewesen, was aber doch nicht jeder machen wollte.

Das Thema Deutschlandpolitik war allerdings bei Weitem nicht das einzige von der Hanns-Seidel-Stiftung im Bildungswerk und in der Akademie behandelte Thema. Von Agrarpolitik über Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Europapolitik, Familienpolitik, Kommunalpolitik, Umweltpolitik bis zur Zeitgeschichte und dazwischen noch viele andere Themen – das ganze weite Feld der Politik war immer schon auch in der Themenpalette des Bildungswerks und seinem Jahresprogramm wiederzufinden. Eine besondere Rolle kam auch schon von Anfang an der Befähigung zum politischen Handeln zu: Vermittlung rhetorischer Fertigkeiten, Einführung in die Pressearbeit, Kenntnis der Strukturen und Regeln in einer Organisation und deren erfolgreiche Nutzung (nicht nur in einer Partei) – Aktionsfähigkeiten also, ohne die Teilhabe und Mitgestaltung in der Demokratie nicht möglich sind.

Seminare nach dem Fall der Mauer

Das waren genau die Themen und Fähigkeiten, die nach der Öffnung von Mauer und Grenze und dem folgenden Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa so gefragt waren. Bereits die wiederkehrenden Montagsdemonstrationen, die seit September 1989 in Leipzig und anderen Städten in der DDR Massen auf die Straße führten, hatten gezeigt, dass es eine erhebliche Anzahl von Bürgern gab, die nicht nur hinter der SED-Führung hertrotteten, sondern selbst ihre politische Zukunft gestalten wollten. Doch dem Willen alleine folgt nicht schon automatisch auch das notwendige Handwerkszeug zur Mitgestaltung. Deshalb herrschte gleich nach der Wende ein großer Andrang in den Seminaren. Das Bildungszentrum Kloster Banz in Oberfranken und somit nahe an der nun endlich durchlässigen Grenze gelegen war diesem Ansturm kaum noch gewachsen. Während sonst für die Teilnahme an den Seminaren ein strengen Regeln folgendes Zulassungsverfahren galt, wurde jetzt praktisch jeder als Teilnehmer zugelassen. Kann sein, dass mancher nur kam, weil er endlich reisen konnte, noch dazu recht günstig, aber die Mehrheit war wirklich interessiert, zumal im Laufe des Jahres deutlich wurde, dass die Grenzöffnung keine vorübergehende Laune des SED-Regimes, sondern von Dauer war, ja, dass das Regime gerade zusammenbrach.

Die Teilnehmer aus der DDR stellten die Stiftung vor unerwartete Abrechnungsprobleme. Es lag nahe und wurde auch von allen anderen akzeptiert, von ihnen einen geringeren Teilnehmerbeitrag zu verlangen und die damals noch bezahlten Fahrtkosten für die Anreise zum Veranstaltungsort – später wurde die Fahrtkostenerstattung ganz gestrichen – sofort und zu Beginn des Seminars auszuzahlen, um den eklatanten Mangel an DM (West!) auszugleichen.

1990 wurden zusätzlich zu den bereits geplanten noch weitere, spezielle Seminare für die Bürger in den neuen Bundesländern geschaffen, die aber grundsätzlich allen offen standen. Vermittelt wurde Orientierungswissen in den Bereichen Staat, Wirtschaft, Gesellschaft mit den Schwerpunkten in Kommunalpolitik, Finanz- und Steuerrecht, Sozialpolitik sowie Energie- und Umweltpolitik. Das Ziel war klar: Mit den Informationen und der Vermittlung von Kenntnissen ein Verständnis für die freiheitliche Demokratie zu wecken, für jene Form der Demokratie also, die den meisten jahrzehntelang nur als Feindbild vorgestellt worden war.

Die Zahl der Seminare stieg in den folgenden Jahren deutlich an. Die Unterbringungsmöglichkeiten der Bildungszentren, sowohl Kloster Banz als auch Wildbad Kreuth, waren schnell ausgeschöpft, so dass die Stiftung für Seminare, die nur ein oder zwei Tage dauerten, in andere Orte ging. Das entsprach aber der bis dahin auch schon geübten Praxis, überall im Land Veranstaltungen durchzuführen. Nur dass jetzt nicht nur in Bayern geeignete Lokalitäten gesucht wurden, sondern auch in den neuen-alten Nachbarländern Sachsen und Thüringen. Die Begrenzung der politischen Bildungsarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung auf Bayern, die der Begrenzung der politischen Organisation der CSU entsprach und nach der Rücknahme des Kreuther Trennungsbeschlusses von 1976 schier in Stein gemeißelt war, diese Begrenzung war aufgeweicht.

Zu Beginn des Wochenend-Seminars im Bildungszentrum Wildbad Kreuth vom 20. auf den 21. Januar 1990 outeten sich die Teilnehmer als Mitglieder der ganz selbständig und augenscheinlich ohne Absprache mit der CSU in Bayern gegründeten Landesverbände der „CSU Sachsen“ und der „CSU Thüringen“. Am späten Abend des 20. Januar wurden alle von der Nachricht überrascht, dass in Leipzig aus einem Dutzend kleinerer politischer Gruppierungen die „Deutsche Soziale Union“, kurz DSU gegründet worden war. Die Anwesenden fühlten sich übergangen, ja richtiggehend überrumpelt. Die hektischen Krisensitzungen der beiden ostdeutschen CSU-Landesverbände wurden, strikt voneinander getrennt, im Gang der dem Bildungszentrum gegenüberliegenden Wirtschaft Altes Bad abgehalten, wohin man sich zurückgezogen hatte. Mitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung waren an den Beratungen nicht beteiligt, aber auch so war unschwer eine hohe Konflikt-Bereitschaft erkennbar.

So war auch die Stimmung am nächsten Morgen, als auf dem Podium zwei führende Politiker der bayerischen CSU mit den Teilnehmern diskutierten: Peter Gauweiler, damals Umweltminister, und Edmund Stoiber, damals Innenminister. Beide ermunterten die Teilnehmer heftig, ihre Position einer eigene Landes-CSU in Sachsen und in Thüringen weiter zu vertreten. Die Teilnehmer selbst verabschiedeten eine „Durchhalte-Resolution“. Aber die ist leider nicht mehr verfügbar, denn einer von ihnen verschaffte sich das Original und nahm es mit, wohl in der Annahme, dieses Dokument werde im Wert bald sehr hoch stehen.

Das war am Sonntag; am folgenden Montag entschied der CSU-Vorstand in München, die DSU politisch und so weit möglich auch sachlich zu unterstützen. Die Idee von CSU-Landesverbänden außerhalb Bayerns war ad acta gelegt.

Verbindungsstellen in Berlin und Leipzig

Die Stiftung unterhielt in Leipzig eine eigene Geschäftsstelle mit der Aufgabe, die vielen Seminare in den Bundesländern Sachsen und Thüringen zu organisieren. Geführt wurde dieses Büro von Walter Zieschang, dem ehemaligen Dom-Kustos aus Erfurt. Da erwiesen sich in der Tat die schon vor der Wende geknüpften Kontakte als sehr hilfreich. Organisatorisch war diese Geschäftsstelle dem Bildungswerk der Hanns-Seidel-Stiftung zugeordnet. So wurde auch im Organigramm der politische Wille augenfällig unterstrichen: Aufgabe dieser Geschäftsstelle war die Bildungsarbeit, von der es gerade in diesen Zeiten des Umbruchs nicht genug geben konnte, nicht etwa die Vorbereitung einer Ausdehnung der CSU auf die benachbarten Bundesländer.

Ganz ohne parteipolitischen Bezug war freilich auch die Arbeit der „Leipziger“ nicht. Denn die Assoziation in Name und Erscheinungsbild der neuen Partei DSU mit der bayerischen CSU war gewollt. In den politischen Zielen war man sich ohnehin weitgehend einig. Organisatorische Hilfen leistete die CSU, aber soweit die politische Bildungsarbeit mit Informations- oder Trainingsseminaren gefragt war, konnte das Büro in Leipzig gute Hilfestellung anbieten. Dabei wurde stets darauf geachtet, dass die Veranstaltungen für alle Interessierte offen waren.

Aber nicht nur in Leipzig eröffnete die Hanns-Seidel-Stiftung eine Außenstelle, sondern auch in Berlin, das seit 1991 wieder Hauptstadt Deutschlands war. Dieses Büro war zunächst in der Knesebeckstraße im Herzen Westberlins untergebracht. Bald aber wurde, vor allem um einen eigenen Veranstaltungsort für Seminare zu haben, eine Villa im Stadtteil Marienfelde angemietet, mindestens eine halbe Stunde vom Berliner Zentrum entfernt. Das war für Berliner Verhältnisse ziemlich abgelegen. Die Klausur, weit entfernt von städtischen Versuchungen, ohne Telefon, ohne Fernsehen auf den Zimmern, war für die Bildungszentren Wildbad Kreuth und Kloster Banz ohne Zweifel ein Konzept, das dem Bildungsanliegen sehr förderlich war. In Berlin war es das nicht, nicht in gleichem Maße. Abgeschiedenheit hieß für viele Interessenten lange Fahrtzeiten, und das bei einem kaum überschaubaren Angebot von Veranstaltungen im Zentrum. Und es gab ja auch, anders als in Wildbad Kreuth und Kloster Banz, keine Übernachtungsmöglichkeit. Offen für alle Interessierten waren die Veranstaltungen allemal, so dass mitunter auch ehemalige 68er-Revolutionäre anzutreffen waren, die mit der Wende ihre Orientierung verloren hatten.

Kurzzeitberater in den neuen Bundesländern

Seminare und andere, kürzere Veranstaltungen waren aber nicht das einzige Angebot der Stiftung in den neuen Ländern. Seit ihrer Gründung hatte die Hanns-Seidel-Stiftung Seminare und Kurzveranstaltungen in einer Vielzahl unterschiedlicher Themenfelder geplant und durchgeführt. Die Stiftung konnte so auf einen soliden Grundstock von Experten zurückgreifen, die nun nicht nur als Referenten bei den Seminaren gebraucht wurden, sondern auch als „Kurzzeitexperten“ in die Neuen Länder geschickt wurden.

Das Konzept der „Kurzzeitexperten“ war der Entwicklungshilfe-Arbeit entlehnt worden. Nicht um eine jahrelange Betreuung von Projekten ging es also, sondern um die Entsendung von Experten für wenige Wochen. Das Konzept kann funktionieren, weil erwartet wird, dass ein vorbereitetes und aufnahmebereites Publikum das in der kurzen Zeit Erlernte selbständig umsetzen wird.

In den ersten Jahren nach der Wende wurden als Kurzzeitexperten – in diesem Fall „Kurzzeitberater“ genannte – erfahrene, mit fundiertem Fachwissen ausgestattete Persönlichkeiten gewonnen, die in mehr als 140 Gemeinden, Städten und Landkreisen tätig waren. Sie sollten beraten, aber keinesfalls das örtliche Personal ersetzen oder gar an deren Stelle die anfallende Arbeit machen.

Betrachtungen drei Jahrzehnte danach

Im November 2019 sind drei Jahrzehnte seit dem Fall der Mauer vergangen. Viel hat sich geändert. Einige, die damals nur kurz in den Osten gehen wollten, sind für Lange geblieben. Die Berliner Mauer und die Grenzanlagen der „Zonengrenze“ sind bis auf einige wenige Erinnerungsstücke verschwunden. Das Büro der Hanns-Seidel-Stiftung in Leipzig wurde aufgelöst, die Verbindungsstelle Berlin ist von Marienfelde wieder ins Zentrum der Hauptstadt umgezogen. Seminare zur politischen Bildung werden dort nicht mehr veranstaltet. Die DSU ist in der politischen Bedeutungslosigkeit versunken.

Welche Wirkung die vielen Seminare in Thüringen und Seminaren hatten, ist – wie auch anderswo – kaum endgültig zu sagen. Der beachtlich große Zulauf, den rechtspopulistische, ja auch rechtsextreme Bewegungen und Parteien gerade in Sachsen und Thüringen haben, beunruhigt zutiefst. Man könnte fragen, ob denn die Referenten in Hunderten von Seminaren, die mehr als zweihundert Kurzzeitberater nicht hinreichend und vor allem auch dauerhaft von den Vorzügen der freiheitlichen Demokratie überzeugen konnten. Aber es wäre unlauter, die zugegeben doch relativ wenigen Veranstaltungsteilnehmer gemessen an der Zahl der Bevölkerung mit den Wahlergebnissen in Verbindung zu bringen. Politische Bildung konnte auch im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands Politik nicht ersetzen, sondern sie nur erklären. Das hat die Bildungsarbeit der Hanns-Seidel-Stiftung nach besten Kräften getan.

Doch eine andere Frage ist, welche Rolle die politische Bildung bis zum Mauerfall gespielt hat und welchen Einfluss, welche Wirkung sie hatte. Immerhin hatten das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen seit 1949 und danach seit 1969 auch das Gesamtdeutsche Institut als Anstalt des öffentlichen Rechts die Bildungsarbeit mit vielen Millionen DM unterstützt. Die Handbücher und Materialien zur und über die DDR waren wichtige Materialien im Unterricht an den Schulen und in den Seminaren der außerschulischen Bildung. Zahlreiche Einrichtungen der Erwachsenenbildung wurden massiv gefördert, darunter auch die Hanns-Seidel-Stiftung. Ohne Zweifel war das einer der Gründe, weshalb deutschlandpolitische Seminare von vielen Veranstaltungsträgern durchgeführt wurden. Das gilt auch für die Hanns-Seidel-Stiftung, denn die Haushaltsmittel waren angesichts der großen Nachfrage bei den Teilnehmern immer knapp, zusätzliche Fördermittel aus Öffentlicher Hand deshalb hoch willkommen. Als im Laufe der Geschichte der (westdeutschen) Bundesrepublik Deutschland die Wiedervereinigung mehr und mehr in den Hintergrund geriet, ja ihre Erwähnung von vielen nur noch als lästige Pflichtübung der Berufspolitiker gesehen wurde, da war es gewiss auch die massive Förderung, die das Thema in den Seminar-Programmen der diversen Veranstalter immer wieder aufscheinen ließ. Allerdings waren die Inhalte zum Teil weit entfernt vom eigentlichen Auftrag des Grundgesetzes und mehr auf die Information über das Leben der anderen Deutschen fokussiert. Dazu gab es inzwischen auch schon eigene Forschungsstellen an westdeutschen Universitäten.

Immerhin: Die gesamtdeutsche – und sei es später dann die innerdeutsche – Bildungsarbeit stemmte sich gegen das Vergessen der Einheit Deutschlands, die Bereitschaft dazu war groß. Ohne diese Bildungsarbeit hätte es wohl kaum einen solchen – von vielen damals gar nicht erwarteten – nationalen Aufschwung gegeben, der die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands getragen hat.

Autor: Rudolf Sussmann