Print logo

Identitätsprobe der Europäischen Idee
Welchen Regeln folgt die Solidarität

„Wie viel Solidarität braucht Europa?“ ist in diesen Zeiten eine beliebte Überschrift. Oder das „Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung“ einzelner Staaten zu erörtern. Am Ende läuft es meist auf die Frage hinaus: Wie viel Souveränität sind die Länder bereit abzugeben, um Ziele solidarisch zu erreichen?

Rudolf Mellinghoff, Alexander Hagelüken, Kea-Sophie Stieber, Jean-Claude Brunet, Beate Merk

Rudolf Mellinghoff, Alexander Hagelüken, Kea-Sophie Stieber, Jean-Claude Brunet, Beate Merk

Diese Motivation wird stark durch äußere Einflüsse geprägt. Anschläge wie jüngst in Paris lassen die Mitgliedstaaten zusammenrücken und bekunden, sich gegenseitig zu unterstützen. Sie scheinen das Verhalten der europäischen Staaten stark zu beeinflussen. Andere innereuropäische Krisen, wie die der Finanzen und Flüchtlinge hingegen, führen tendenziell zu einer von Nationalismen geprägten Haltung.

Zur Diskussion dieser Thematik begrüßte die Hanns-Seidel-Stiftung am 8. Dezember 2015 die Bayerische Staatsministerin für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen, Dr. Beate Merk, MdL, den Vorsitzenden des Bundesfinanzgerichtshofes, Prof. Dr. h. c. Rudolf Mellinghoff, den Generalkonsul von Frankreich in München, Jean-Claude Brunet, und Alexander Hagelüken, leitender Redakteur für Wirtschaftspolitik der Süddeutschen Zeitung.

Beate Merk, Rudolf Mellinghoff

Die Gründerväter der Europäischen Union (EU) haben diese auf der Grundlage einer gegenseitigen Solidarität ihrer Mitgliedstaaten geschaffen. „Einheit in Vielfalt“ stellte die Leitidee dar. Europaministerin Merk fand in ihrem Impulsstatement deutliche Worte für die Entwicklung dieses Zusammenhalts der letzten Jahre. Solidarität sei für viele nur ein Lippenbekenntnis. Nationalismen, Alleingänge und der Bruch des Rechts prägten die Tagesordnung. Gerade jetzt in der Flüchtlingskrise benötige Deutschland die Solidarität der anderen Mitgliedstaaten. Nur wenn Europa zusammen arbeite, können wir die Werte Frieden, Einheit und wirtschaftliche Stabilität erhalten, mahnte sie. Am Ende seien es drei Komponenten, die Europa gestärkt aus der Krise hervorkommen lassen werden. Die Mitgliedstaaten müssen nationale Egoismen ab- und mehr Gemeinschaftsgeist an den Tag legen. Der Erosion des Rechts muss Einhalt geboten und funktionierende nationale Strukturen müssen gestärkt werden.

Die EU versteht sich zwar als Werte- und Solidargemeinschaft, doch wenn es um Flüchtlinge geht, scheint dieser Anspruch hinter der Wirklichkeit zurückzubleiben. Merk zeigte Verständnis für den Vorwurf von Laura Boldrini, man habe Italien allein gelassen. Bereits im Oktober 2013 stand nach der Katastrophe vor Lampedusa das Thema einer Überarbeitung von Dublin III ganz oben auf der Agenda der Kommission. Doch durch die Abhöraffäre der Kanzlerin geriet dieses Anliegen wieder in den Hintergrund. Mittlerweile haben die meisten europäischen Staaten die Notwendigkeit gewisser Regelungen erkannt, weil sie selbst betroffen sind. Die Verteilung unter den EU-Staaten und die Schaffung von sogenannten Hot-Spots erfahren jedoch zahlreiche Widerstände in der Union. Deshalb sind die enormen Flüchtlingszahlen nur durch die unzähligen freiwilligen Helfer im Land überhaupt zu bewältigen.

Alexander Hagelüken, Jean-Claude Brunet, Hilde Stadler

Bei diesem Stichwort betonte Professor Mellinghoff, dass die menschliche Solidarität im Land bewundernswert ist, aber dass die Grenzen des Asylrechts auffangen müssen, was der Staat nicht leisten kann. Soziale Härten durch Rücksendung einzelner Personen muss die Gesellschaft verkraften können. Unter diesem Aspekt kristallisierte sich die Wichtigkeit heraus, den Wirtschaftsflüchtlingen darzulegen, was sie in Deutschland erwartet und vor Ort einem Aufbruch entgegenzuwirken.

Der französische Generalkonsul erklärte, dass aufgrund seiner Kolonialgeschichte nach Frankreich seit jeher viele Migranten kommen. Die Integration habe teilweise sehr gut funktioniert, in den Banlieues wiederum kaum. Hier müsse vor allem Radikalisierung entgegen gewirkt werden. Brunet gab zu bedenken, dass die europäischen Gesellschaften partiell zwar durchaus eng verbunden und solidarisch sind, aber das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik zu einem geschwächten Bild der Welt von Europa führe.

Mellinghoff bewertete den derzeitigen Zustand der Europäischen Union insgesamt als ambivalent. Insbesondere auf Dauer beunruhigend empfindet er die Austestung der Grenzen des Rechts und deren Überdehnung durch die Mitgliedstaaten und Brüssel. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Vergangenheit immer wieder die Frage zu prüfen, ob die Kompetenzgrenzen der EU überschritten sind oder nicht. Diese Prüfung nimmt das Gericht als einziges europäisches Gericht vor. Ohne das Bundesverfassungsgericht wären somit einige Grenzen wohl deutlich weiter überdehnt worden. Europa wurde als Rechtsgemeinschaft gegründet. Wenn das Recht also weiterhin auf Dauer gebrochen wird,  fehlt die Grundlage und die EU werde nicht mehr in der Lage sein zusammenzuarbeiten.

Hagelüken problematisierte in diesem Zusammenhang den ständigen Bruch des Solidaritätspaktes. Dieser erfolgte durch viele Staaten, wovon Deutschland und Frankreich nicht auszunehmen sind. Die Regierungen verfolgen nationale Interessen typischer Weise zuerst. Ob es überhaupt so etwas wie eine europäische Identität gibt, die als Stützpfeiler fungiere, stellte er in Frage. Die EU habe sich zu einem laufenden Reparaturbetrieb entwickelt, der erst in der jeweiligen Krise reagiere.

Für das Fazit des Abends ließ die Moderatorin, Hilde Stadler, die Podiumsteilnehmer zehn Jahre in die „EU-Zukunft“ blicken. Dabei war man sich einig, dass wir uns bewusster werden müssten, was wir an der Europäischen Union haben. Das Tempo der Entwicklung etwas zu verlangsamen, dafür zu intensivieren. Die EU habe ein stabiles Fundament, das in der Substanz nicht zu beeinträchtigen sei. Aber die Vision eines europäischen Außenministers hält Mellinghoff für unrealistisch. Bessere Zusammenarbeit und Solidarität seien jedoch denkbar und wünschenswert. Europa müsse die Krise als Chance begreifen und ein Wirtschaftsakteur werden, der auf Augenhöhe mit anderen Wirtschaftsmächten der Welt steht. Wenn die Länder untereinander die Erfahrung machen, dass Hilfe, die sie leisten auch zurück kommt, wird die Bereitschaft, sich solidarisch zu verhalten, steigen.