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Vor 90 Jahren hebelte das „Ermächtigungsgesetz“ Demokratie und Rechtsstaat aus
Was schützt heute unsere Verfassung?

Autor: Dr. Philipp W. Hildmann

Innerhalb weniger Wochen zerstörten die Nationalsozialisten und ihre deutschnationalen Koalitionspartner Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland. Könnte das wieder geschehen? Wie sicher ist unsere Verfassungsordnung heute? Vier Thesen zur Erinnerung und Mahnung.

Der Reichstag verabschiedete am 23. März 1933 mit großer Mehrheit das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das sogenannte Ermächtigungsgesetz. Es bestand aus fünf Paragraphen: Die Reichsregierung sollte (offiziell neben dem Reichstag) zur Gesetzgeberin werden und ihre Gesetze auch selbst ausfertigen und verkünden dürfen. Sogar eine Verfassungsänderung sollte ihr möglich sein.

Bausback und Austermann stehen vor dem HSS-Aufsteller und einer Bayern-, einer Deutschland- und einer Europafahne und lächeln in die Kamera.

Staatsminister a.D. Prof. Dr. Winfried Bausback, MdL (links), mit Prof. Dr. Philipp Austermann. Austermann ist Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Zuletzt erschien von ihm: „Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments“ (2020). Am 20. Juni 2023 hat er in der Reihe "Gesellschaft gemeinsam gestalten" in der Hanns-Seidel-Stiftung einen Vortrag zur Frage "Wer schützt heute eigentlich unsere Verfassung?" gehalten und mit Staatsminister a.D. Prof. Dr. Winfried Bausback darüber diskutiert.

Witte; ©HSS; HSS

Das Ermächtigungsgesetz war formell verfassungswidrig

Das Ermächtigungsgesetzt wurde zum entscheidenden Schritt zur vollständigen Machtübernahme der Reichsregierung unter Adolf Hitler. Der Reichstag, der Reichsrat (die Ländervertretung) und der Reichspräsident sollten mit diesem Gesetz zu entmachteten Statisten der Nationalsozialisten werden. Durch eine Mischung aus falschen Versprechungen und kaum verhohlenen Drohungen gelang es diesen, die Zentrumsfraktion zur Zustimmung zu bewegen. Auch die übrigen Abgeordneten folgten – mit Ausnahme der SPD.

Und doch war das Ermächtigungsgesetz formell verfassungswidrig und rechtlich unwirksam. Denn es war nicht in einem verfassungsgemäßen Verfahren verabschiedet worden: Der Reichstag war nicht ordnungsgemäß zusammengesetzt, weil den 81 KPD-Abgeordneten und auch 26 verhafteten SPD-Abgeordnete die Sitzungsteilnahme (auch unter Missachtung ihrer Immunität) verwehrt worden war. Außerdem war die Abstimmung über das Gesetz gerade für die Oppositionsabgeordneten nicht frei, weil die Nationalsozialisten eine regelrechte Drohkulisse im Reichstag und davor aufgebaut hatten. Die SA war sogar im Plenarsaal präsent.

Weimarer Verfassung ausgehebelt

Die rechtliche Ungültigkeit des Ermächtigungsgesetzes interessierte die Nationalsozialisten nicht. Sie behaupteten, es sei eine wirksame Grundlage ihres weiteren Handelns. Die tatsächliche Wirkung des Ermächtigungsgesetzes für den Aufbau und die Festigung der NS-Diktatur ist entscheidend für seine Bewertung. Das „Gesetz“ lieferte eine vermeintlich legale und damit das Gewissen beruhigende Grundlage für den nationalsozialistischen Staatsumbau und das Handeln hunderttausender Amtsträger und Millionen Deutscher. Das scheinlegale Ermächtigungsgesetz war der Schlussstein der quasilegalen Machteroberung der Nationalsozialisten in den ersten Monaten des Jahres 1933: Der Rechtsstaat war schon durch die Reichstagsbrandverordnung weitgehend ausgehebelt. Das Ermächtigungsgesetz zerstörte de facto in einem als Revolution anzusehenden Akt Gewaltenteilung und Demokratie. Es markiert damit den Todeszeitpunkt der Weimarer Verfassung.

Das Grundgesetz darf heute nicht mehr per Gesetz abgeschafft werden

Der 1948 in Bonn zusammengetretene Parlamentarische Rat, der eine Verfassung für den westdeutschen Staat ausarbeiten sollte, hat aus der Geschichte gelernt und das Grundgesetz gegen eine „Abschaffung durch Gesetz“ abgesichert. Dem Parlamentarischen Rat gehörten viele Personen an, die im „Dritten Reich“ Repressalien ausgesetzt waren. Schon der Verfassungsentwurf, den eine Expertenrunde im August 1948 auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee ausgearbeitet hatte und der dem Parlamentarischen Rat als Beratungsgrundlage diente, enthielt eine Regelung, wonach Anträge auf Änderung des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt würde, unzulässig seien. Dieser Entwurf wurde in mehreren Sitzungen noch verfeinert.

Dem Parlamentarischen Rat war bewusst, dass durch Schutzvorschriften allein eine gewaltsame Revolution nicht verhindert werden kann. Aber mit der Schutzvorschrift sollte eine „Barriere aufgerichtet werden in dem Willen, einer Revolution die Maske der Legalität zu nehmen“. Niemand sollte die Möglichkeit haben, „unter dem Schutz der Scheinlegalität effektiv Revolution zu machen, ohne sich dazu bekennen zu müssen“. Ein neues Ermächtigungsgesetz sollte nicht mehr zulässig sein und auch nicht mehr als angeblich legale Grundlage zur Rechtfertigung revolutionärer Schritte und Maßnahmen dienen können.

Die Gesellschaft muss ihre Verfassung selber schützen

Rechtliche Sicherungen oder die Vorschriften, die unsere Demokratie zu einer wehrhaften machen, sind unabdingbar. Doch reichen sie nicht aus, um Demokratie und Rechtsstaat verlässlich dauerhaft zu schützen. Die Demokratie, die Volksherrschaft, ist immer nur so resistent gegen ihre Feinde, wie sie Unterstützung im Volk erfährt. Ist zumindest die überwiegende Mehrheit des Volkes der Meinung, der Staat mit seiner Verfassung funktioniere (auch in ihrem Sinne), befürworten sie ihn. Für den Schutz der Verfassung ist also deren gesellschaftliche Akzeptanz eine wichtige Voraussetzung. Diese gesellschaftliche Akzeptanz wiederum baut auf vier Elementen auf:

  1. der wirtschaftlichen Lage des Landes
  2. einer bürgernahen Politik, die Probleme löst
  3. der strikten Beachtung des Rechts 
  4. politischer Bildung, also der Vermittlung demokratischer Werte und der Erziehung zum Staatsbürger und zur Staatsbürgerin.

Verlieren der Staat und seine Repräsentanten die Unterstützung der Mehrheit, ist die Verfassung in großer Gefahr, und sei sie rechtlich noch so gut geschützt. Dann kann ein scheinlegales Gesetz genügen, um sie zu beseitigen und um eine vermeintlich rechtmäßige neue Ordnung zu begründen, in der Gesetze nichts weiter sind als schrankenlose Machtmittel, die zu Verbrechen aller Art „ermächtigen“. Unsere Verfassung ist seit über 70 Jahren stark – weil sie aus Vergangenheit die richtigen Lehren gezogen hat, gut ausbalanciert ist und große Unterstützung im Volk erfährt. Diese Unterstützung zu erhalten, ist eine Aufgabe für uns alle – und nicht zuletzt für die Hanns-Seidel-Stiftung.

Gekürzter Vortrag von Prof. Dr. Philipp Austermann