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Ungewisser Ausgang
Tunesien vor den Präsidentschaftswahlen

Wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen in Tunesien am 15. September 2019 bleiben die Wähler unentschlossen und zögerlich. Zu sehr ist die Bevölkerung von der politischen Elite und ihrer Politik in den letzten Jahren enttäuscht. Doch trotz zahlreicher Skandale und in sich zerstrittener politischer Parteien schreiten die Wahlvorbereitungen und -kampagnen unbeirrt voran. Zeit für eine Momentaufnahme der aktuellen politischen Lage

Es ist beeindruckend, auf der kleinen Anhöhe zu stehen und auf die prachtvollen Überreste der römischen Thermen des Antoninus Pius in Karthago zu blicken. Obwohl der Glanz dieser vergangenen Epoche im heutigen Tunesien nur noch selten sichtbar ist, scheinen Parallelen zu dieser Zeit, an ganz anderer Stelle im modernen Tunesien wieder zutage zu treten. Dabei muss der politisch interessierte Betrachter lediglich ein Stück weiter entlang der Küste gehen und schon fühlt er sich von den Palastintrigen und dem Ränkespiel rivalisierender Gruppen umgeben, die so typisch für die römische Antike waren. Ebenfalls an der Küste Karthagos, streng abgeschirmt, steht der Palast des tunesischen Präsidenten. Um ihn ist im Zuge der Wahlen am 15. September ein heißer Wettstreit entbrannt, der verdeutlicht, wie nahe sich in der tunesischen Politik Antike und demokratische Moderne bisweilen sind.

Streit über Veränderungen im Wahlgesetz

Klar wurde dies bereits im Vorfeld der Wahl, als das Parlament einem Gesetzesentwurf zur Änderung des bestehenden Wahlgesetzes mit großer Mehrheit zustimmte. Durch die neuen Bedingungen für die Zulassung einer Kandidatur wäre es den aussichtsreichen Kandidaten Nabil Karoui (m) und Abir Moussi (w) nicht mehr möglich gewesen, zur Wahl anzutreten. Abgewehrt wurde dieser recht plumpe Versuch, politische Gegner aus dem Weg zu räumen, nur durch die verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Verweigerung des inzwischen verstorbenen Präsidenten Beji Caid Essebsi, das verabschiedete Gesetz zu unterschreiben. Hier erinnert nun nicht nur die Art und Weise politische Gegner durch juristische Verfahren aus dem Rennen zu werfen an antike römische Zeiten. Verfahrensrechtlich waren diese Vorgänge legitim. Sie sind aber nur möglich gewesen, weil ein ordentliches Verfassungsgericht fehlt, das solcherlei Umtriebe in modernen Demokratien in der Regel zu unterbinden vermag.

Eine weiße Mauer mit vorgezeichneten Flächen für Wahlplakate. Im Hintergrund Bäume.

Auch kurz vor der Wahl sind viele Plakatflächen noch ungenutzt. Angesichts von 26 Kandidaten haben idie tunesischen Wähler die Qual der Wahl.

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Die Kandidatenliste und die Favoriten

Auch die Entstehung der Kandidatenliste hält einem Vergleich mit der Antike stand. Wahlweise wurden die Kandidaturen hinter verschlossenen Türen und mithilfe von persönlichen Beziehungen eingefädelt oder die Kandidaten sahen sich bereits bei der Sammlung der Unterstützerunterschriften Vorwürfen des Stimmenkaufs ausgesetzt. Der erste Punkt trifft besonders auf die Mehrzahl der zugelassenen Kandidaten aus dem konservativen sowie die zwei Kandidaten aus dem religiösen Lager zu, während einige unabhängige Kandidaten unter den insgesamt 97 eingereichten Kandidaturen mit unlauteren Mitteln bei den Wählern auf Stimmenfang gegangen sind. Nun stehen 26 zugelassene Kandidaten zur Wahl, die sich grob in elf Vertreter der etablierten konservativen Kräfte, fünf populistische Kandidaten, zwei Kandidaten aus dem religiösen Lager und mehrere unabhängige Kandidaten sowie Kandidaten linker Randparteien einteilen lassen.

Der wahre Zweikampf findet zwischen den etablierten politischen Eliten und den populistischen Newcomern statt. Das spiegelt sich auch in der Gruppe der vier Favoriten . Unter diesen befinden sich Youssef Chahed, amtierender Ministerpräsident, Abdelkrim Zbidi, bis vor kurzem amtierender Verteidigungsminister, und Abdelfattah Mourou, amtierender Parlamentspräsident und Kandidat der islamischen Ennahda Partei, gleich drei Vertreter des seit 2011 bestehenden politischen Establishments. Demgegenüber steht mit Nabil Karoui der Archetyp eines Volkstribuns. Durch öffentlichkeitswirksame Wohltaten, die zumeist von seinem eigenen Fernsehsender Nessma TV verbreitet wurden, beliebt geworden, präsentiert sich Karoui in altbewährter Manier als Mann des Volkes und Gegner der herrschenden Eliten, denen er selbst angehört. Dieser Ruf wird durch seine Inhaftierung kurz vor dem Startschuss für die Wahlkampagnen wegen des Vorwurfs Geld gewaschen zu haben vermutlich noch gestärkt.

Die Ruinen der Antoninus-Thermen in Karthago mit einer bemerkenswerten 15-Meter hohen Säule und im Hintergrund das Meer

Nicht weit von den Ruinen der Thermen in Karthago befindet sich der heutige Präsidentenpalast. Noch ist der Ausgang der Präsidentschaftswahlen am 15. September völlig ungewiss.

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Punktgewinne für das moderne Tunesien

Diese Lage führt dazu, dass sich große Teile der Bevölkerung auch angesichts des Wahlaktes in frühere Zeiten zurückversetzt fühlen, in denen eine Wahl in vielen Fällen eher die symbolische Absegnung von Entscheidungen war, die von Eliten längst getroffen worden waren. An diesem Punkt fängt die aktuelle politische Situation in Tunesien an, sich dem Vergleich mit der Vergangenheit zu entziehen. Heute ist der Ausgang der Wahl nach wie vor ungewiss. Dies resultiert einerseits aus der überraschenden Vorverlegung der Präsidentschaftswahlen nach dem Tod von Präsident Essebsi, da für die sonst üblichen internen Absprachen wenig Zeit blieb. Andererseits ist der offene Wahlausgang der politischen und vor allem auch ökonomischen Situation im Land zuzuschreiben, die es allen etablierten politischen Kräften erschwert hat, eine breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung für ihren jeweiligen Kandidaten zu generieren. Hieraus erklärt sich auch die steigende Beliebtheit von Kais Saïed, dem als einzigem unabhängigen Kandidaten Chancen zugeschrieben werden. Würde es der Universitätsprofessor tatsächlich in die zweite Runde der Wahlen schaffen, wäre das der Beweis, dass man im modernen Tunesien auch ohne große finanzielle Ressourcen und politische Seilschaften politische Bedeutung erlangen kann.    

Das überaus breit gefächerte Bewerberfeld ist darüber hinaus Ausdruck einer lebendigen Parteienlandschaft, in der sich mit über 200 politischen Parteien für nahezu jeden politischen Geschmack etwas finden lässt. Eingebettet sind die Parteien in eine lebendige Zivilgesellschaft, die stetig an Einfluss gewinnt und die Regierung immer wieder dazu bringt, undemokratische oder unpopuläre Entscheidungen zu korrigieren. Dies geschah beispielsweise bei dem Amnestiegesetz für staatliche Bedienstete, die unter Ben Ali tätig waren. Aufgrund zahlreicher Proteste wurde es in abgeänderter Form verabschiedet.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Besonders schwer wiegt der Umstand, dass die Präsidentschaftswahlen in Tunesien zwar von großer symbolischer Bedeutung sein mögen, die wirkliche politische Macht jedoch erst bei den Parlamentswahlen am 6. Oktober 2019 neu verteilt wird. Zwar geht die Macht des tunesischen Präsidenten in manchen Bereichen über die repräsentative Funktion seines deutschen Amtskollegen hinaus, was beispielsweise sein Mitspracherecht in den Ressorts Verteidigung und Äußeres betrifft, doch verbleiben alle endgültigen Entscheidungsbefugnisse beim Regierungschef und beim Parlament. Die größte Bedeutung der Präsidentschaftswahlen ist daher ihre Signalwirkung auf die folgenden Parlamentswahlen.

Außerdem wird der Ausgang der Präsidentschaftswahlen zeigen, ob nicht auch in jungen Demokratien Protestwahlen zugunsten von populistischen Newcomern möglich sind. Damit wäre die tunesische Demokratie zumindest in dieser Hinsicht auf der Höhe der Zeit angekommen und stünde der politischen Entwicklung in Europa in nichts nach. Um dieses Szenario zu verhindern, könnte das Establishment versucht sein, etwa durch Wahlgeschenke aller Art oder Aktionen am Wahltag den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen. Dies lässt wiederum einige Beobachter befürchten, dass die möglichen Übergriffe des Establishments gegenüber den Newcomern zu einer möglichen Annullierung der Wahlergebnisse führen könnten, sofern es den unterlegenen Kandidaten im Nachgang der Wahlen gelingen könnte, die Zivilgesellschaft in ihrem Sinne zu mobilisieren. Die Tunesier sind realistisch: Nur wer eine „Maschine“ hinter sich hat, kann sich am Ende durchsetzen. Mit der Maschine ist das Quartett aus Geld, Medien, ausländischer Unterstützung und Instrumentalisierung der Staatsgewalt für eigene Zwecke gemeint. Der Begriff der „Demokratur“ macht die Runde.

Angesichts dieser komplexen Situation lohnt es sich also, den heißen tunesischen Wahlherbst von Anfang bis Ende zu verfolgen. Unter dem Strich lässt sich aller Ungewissheiten zum Trotz zumindest eines mit großer Sicherheit sagen: Nach den beiden Wahlen wird das Regieren in Tunesien – egal für wen – definitiv nicht einfacher.

Autoren: HSS-Projektbüro Tunis

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin