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Kroatiens erste EU-Ratspräsidentschaft und der Westbalkan
Solidarität in Krisenzeiten

Corona-Pandemie, Erdbeben in Zagreb, EU-Westbalkan-Gipfel nur auf digitaler Ebene: Kroatiens EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2020 war bisher gesäumt von ungeahnten Schwierigkeiten. Unter dem Slogan „ein starkes Europa in einer Welt voller Herausforderungen“ wollte sich Kroatien auf vier Prioritätsfelder fokussieren: Wachstum und Entwicklung, Infrastruktur und Konnektivität, Sicherheit und Migration sowie eine starke globale Rolle der Europäischen Union mit konkreter Erweiterungsoption in Richtung Westbalkan. Nach Meinung der kroatischen Regierung konnte vieles davon umgesetzt werden, nur wenig sei dem Corona-Virus zum Opfer gefallen.

Eigentlich hätte es die zeremonielle Krönung der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft werden sollen, die am ersten Juli 2020 an Deutschland weitergereicht wird: der EU-Westbalkan Gipfel in Zagreb am 6. und 7. Mai mit großem Auftritt aller EU-Staats- und Regierungschefs zusammen mit ihren Kollegen aus sechs Ländern des Westbalkans. Serbien und Montenegro führen bereits konkrete Beitrittsverhandlungen und Albanien und Nord-Mazedonien haben von der EU im März dieses Jahres die lang erwartete Zustimmung für den terminlich allerdings noch unbestimmten Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen erhalten.

Zwei spitze Kirchtürme mit offenbaren Schäden in der Ferne

Türme des Zagreber Doms, einer davon ohne Spitze nach dem Erdbeben vom 22. März 2020.

©HSS

Digital und doch real: virtuelle Zusammenkunft in Zagreb mit visuellen Ergebnissen

Aufgrund der fortbestehenden Corona-Virus-Pandemie konnte dieses aufwendig geplante Gipfeltreffen nur virtuell am 6. Mai 2020 als eine auf drei Stunden reduzierte Videokonferenz durchgeführt werden. Gastgeber des „Zagreb-Summit“ war Kroatiens Ministerpräsident Andrej Plenković. Dennoch zeigt sich die kroatische Regierung angesichts der gegenwärtigen Situation mit dem Gipfelergebnis und ihrer bisherigen EU-Ratspräsidentschaft zufrieden: Dass nach jahrelanger Hängepartie (wegen des Vetos von Frankreich, den Niederlanden und Dänemark) die EU im März dieses Jahres endlich im Konsens der Aufnahme von förmlichen EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien zugestimmt hatten, bleibe das „politische Erbe“ der kroatischen Ratspräsidentschaft. Dieser Durchbruch gelang genau 20 Jahre nach dem sogenannten „Zagreb-Summit“ vom 24. November 2000, auf dem den Ländern Südosteuropas, damals auch Kroatien selbst, erstmals eine konkrete EU-Perspektive geboten wurde.   

Kroatien, seit Juli 2013 jüngstes Mitglied der Europäischen Union, war bestens auf seine erste EU-Ratspräsidentschaft und auf die erwarteten internationalen und EU-spezifischen Brennpunkte vorbereitet: Migration und „Brain-drain“ aus Südosteuropa in Richtung Westeuropa, „Brexit“-Finalisierung, EU-Finanzrahmen 2021 bis 27, EU-Erweiterung in Richtung Westbalkan mit einem reformierten Beitrittsverfahren und nicht zuletzt auch Vollendung der kroatischen EU-Mitgliedschaft in Bezug auf den angestrebten Beitritt in die EURO-Zone und Aufnahme in den „Schengen-Raum“. Zu letzterem hatte Kroatien am 22.Oktober 2019 grundsätzlich „grünes Licht“ von der EU-Kommission erhalten.

Eine hübsche Kirche mit verziertem Dach

Platz vor dem SABOR, dem kroatischem Parlament

©HSS

Erwartete und unerwartete Herausforderungen der kroatischen Ratspräsidentschaft

Die kroatische Ratspräsidentschaft ist ein Beispiel dafür, dass auch kleine Staaten, wie das knapp vier Millionen Einwohner zählende Land an der Adria, bereit und in der Lage sind, eine aktive Rolle innerhalb der EU zu spielen, so der Tenor einer im Dezember 2019 erschienenen Studie der Hanns-Seidel-Stiftung Kroatien. Ziel der kroatischen Ratspräsidentschaft müsse es sein, „... not only as consumer but as provider of stability, peace and security“ zu fungieren, um allen anfallenden regionalen und internationalen Herausforderungen gewachsen zu sein. Doch zu diesen einkalkulierten Herausforderungen kamen mit voller Wucht und unvorhergesehen zwei weitere hinzu:

Zum einen die Covid-19-Pandemie in Europa und auf der ganzen Welt mit all ihren Folgen staatlicher Notstandsregelungen. Zum anderen das massive Erdbeben in Kroatiens Hauptstadt Zagreb am 22. März 2020, das gerade in der Innenstadt, in der sich viele Regierungsgebäude befinden, zu erheblichen Zerstörungen geführt und den Bewohnern Zagrebs neben „shutdown“ und „lockdown“ noch zusätzliche Belastungen aufgebürdet hat. Mehr als 22.000 Schäden wurden in Zagreb registriert. Zahlreiche Gebäude müssen abgerissen werden. Betroffen ist vor allem das historische Stadtzentrum, wo sich auch das Büro der Hanns-Seidel-Stiftung befindet. Es besteht zumeist aus Häusern, die um die Jahrhundertwende nach dem letzten schweren Erdbeben von 1880 gebaut worden waren. 

Umso erfreuter zeigte sich daher die kroatische Regierung über das EU-Westbalkan Gipfeltreffen, das zwar digital aber termingerecht durchgeführt werden konnte.

Finanzhilfen für den Westbalkan aber EU-Mitgliedschaft unbestimmt

Wenngleich die große Show ausbleiben musste und der rote Teppich eingerollt blieb, konnte Kroatien sein außen-und regionalpolitisches Ziel, sich als Bindeglied und Brücke zwischen der EU und ihren südosteuropäischen Nachbarn zu präsentieren, augenscheinlich realisieren, zumindest in finanzieller Hinsicht. So beschloss die EU ein Unterstützungspaket für den Westbalkan aus Zuwendungen und Krediten in Höhe von 3,3 Mrd. Euro, wovon  38 Mio. Euro durch Umschichtungen aus dem „Instrument für Heranführungshilfe“ (IPA) für Soforthilfemaßnahmen im Gesundheitssektor, 389 Mio. Euro zur Deckung des Bedarfs bei der sozialen und wirtschaftlichen Erholung und ein Paket von 455 Mio. Euro zur Wiederankurbelung der Wirtschaft vorgesehen sind. Hinzu kommen noch Vorschläge für Finanzhilfen über 750 Mio. Euro und ein Hilfspaket der Europäischen Investitionsbank in Höhe von 1,7 Mrd. Euro. Allerdings wurden auf dem Gipfel bezüglich einer EU-Erweiterung nur vage Verlautbarungen getroffen. Fast alle Medien der sechs Westbalkanländer kommentierten einhellige Enttäuschung, dass die im Rahmen der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft  verlautbarte „Erklärung von Zagreb“ dem Westbalkan trotz deklarierter „geostrategischer Priorität“ nur eine nicht näher definierte „europäische Perspektive“ enthielt und Begriffe wie „Erweiterung, Integration, EU-Mitgliedschaft“, vor allem auf französisches Betreiben und Beharren hin, nicht im Zagreber-Abschlussdokument vorkamen. Dies geht aus Quellen des „Jutarnji List“ deutlich hervor.

Doppelinterview: Kroatische Ratspräsidentschaft und EU-Westbalkan-Gipfel

Wie die bisherige kroatische EU-Ratspräsidentschaft und der EU-Westbalkan-Gipfel in Kroatiens Hauptstadt Zagreb eingeschätzt wird, zeigen folgende beiden vom Regionalbüro der Hanns-Seidel-Stiftung in Zagreb durchgeführten Interviews hinsichtlich einer politischen Bewertung durch den kroatischen Außen- und Europaminister Dr. Gordan Grlić-Radman, und hinsichtlich einer Bewertung aus wissenschaftlicher Sicht durch Dr. Sandro Knezović vom „Institut for Development and International Relations“ (IRMO), Kooperationspartner der HSS in Zagreb.

Mann im Anzug an einem Rednerpult mit dem Emblem Kroatiens.

Rede von Grlic-Radman auf einer HSS-Veranstaltung zum Thema EU-Ratspräsidentschaft Kroatiens in Dezember 2019 in Zagreb. Vor seine Berufung in die Regierung von Ministerpräsident Andrej Plenković war er kroatischer Botschafter in Deutschland.

©HSS

Interview mit dem kroatischen Außen – und Europaminister, Dr. Gordan Grlić-Radman.

HSS: Herr Minister, wie würden Sie angesichts der Corona-Virus-Pandemie und der schwierigen Bedingungen, unter denen gerade die kroatische Ratspräsidentschaft stattfindet, die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten bewerten? Es hat ja verschiedentlich Vorwürfe gegeben, die Mitglieder seien zu sehr auf sich selbst konzentriert? Wie würden Sie die EU-Haltung gegenüber den Ländern Südosteuropas beurteilen?

Dr. Gordan Grlić-Radman: Als wir den Slogan der kroatischen Ratspräsidentschaft "Starkes Europa in einer Welt voller Herausforderungen" wählten, konnten wir uns nicht einmal vorstellen, dass wir neben den bestehenden Herausforderungen vor einer Herausforderung von beispiellosem Ausmaß stehen werden, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht wurde. Als Reaktion auf die Covid-19-Krise aktivierte die kroatische Ratspräsidentschaft den Mechanismus „Integrierte Regelung für die politische Reaktion auf Krisen“. Nach dem Ausbruch der Pandemie erörterte der EU-Rat im Rahmen von Video-Konferenzen auf Ebene verschiedener Minister, wie man der Krise in den verschiedenen Sektoren begegnen kann, setzte aber auch die Gespräche über andere Problempunkte der EU fort. Ich möchte insbesondere den Beschluss des EU-Rates über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien hervorheben sowie den Beschluss über die Aufnahme der Verhandlungen mit Großbritannien über eine neue Partnerschaft mit der EU. Als Reaktion auf die Corona-Krise wurde darüber hinaus im Gesundheitsbereich die Beschaffung von Medizinprodukten intensiviert. Die Erleichterung des Verkehrs und der konsularischen Zusammenarbeit sowie die erfolgreiche Rückführung tausender Kroaten und anderer EU-Bürger in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) sind weitere markante Punkte. Die Ratspräsidentschaft hat in Zusammenarbeit mit den Institutionen der EU die Kontinuität des Gesetzgebungsverfahrens innerhalb der EU sichergestellt und zur Annahme von Finanzpaketen beigetragen, mit denen die sozioökonomischen Folgen der Pandemie gemindert werden.

Anfang Mai nahm Ministerpräsident Andrej Plenković zusammen mit etwa 30 anderen Staats- und Regierungschefs an der „Internationalen Geberkonferenz für die globale Reaktion auf Covid-19“ unter dem Vorsitz der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, teil, bei der etwa 50 Länder vertreten waren. Bei dieser Konferenz wurden bereits am ersten Tag 7,4 Milliarden Euro gesammelt. Neben den bereits über die „Kroatische Stiftung für Wissenschaft“ gesicherten 14 Millionen Kuna stellt Kroatien eine weitere Million Euro für die Forschung und Entwicklung von Impfstoffen und für die Behandlung von Covid-19 Erkrankung zur Verfügung. Dies spricht für das Bewusstsein in der EU, dass diese Krise nur gemeinsam mit den Partnern aus aller Welt überwunden werden kann.

Gleichzeitig hat die EU aber auch ihre unmittelbare Nachbarschaft nicht vergessen. Die Hilfe, die die EU den Ländern des westlichen Balkans für humanitäre und gesundheitliche Zwecke und zur Abschwächung der sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie geleistet hat, ist von kolossalem Ausmaß und zeugt von einem starken Engagement in diesen schwierigen Zeiten. Dies ist eine klare Botschaft der Solidarität der Europäischen Union mit den betroffenen Ländern Südosteuropas, aber auch der Sorge um die Sicherheit und Stabilität des gesamten europäischen Kontinents. Dementsprechend hat die Regierung der Republik Kroatien auf Ersuchen Albaniens, Bosnien und Herzegowinas und Montenegros auf Vorschlag des Ministeriums für auswärtige und europäische Angelegenheiten beschlossen, humanitäre Hilfe zur Bekämpfung von Covid-19 zu leisten.

Andererseits befanden wir uns aufgrund des starken Erdbebens in Zagreb während der Ausbreitung der Pandemie selbst in einer Situation, in der uns jede Hilfe viel bedeutete. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, in gegenseitiger Solidarität unseren Nachbar- und befreundeten Ländern entsprechend unseren derzeitigen Möglichkeiten zu helfen. Und bei unseren EU-Partnern haben wir uns für die Aufhebung der Verpflichtung zur Einholung von Ausfuhrgenehmigungen für persönliche Schutzausrüstung für die Länder des West-Balkans eingesetzt, sodass seit dem 26. April persönliche Schutzausrüstung frei aus der Europäischen Union in die Länder des West- Balkans exportiert werden kann. All dies ist eine wichtige Botschaft für den West-Balkan, dass Kroatien und die Europäische Union auch in diesen schwierigen Zeiten zu ihnen stehen und dass gemeinsame Maßnahmen erforderlich sind, um die Folgen dieser Pandemie so schnell wie möglich zu überwinden.

Die EU ist ein unverzichtbarer Rahmen, der unseren Bürgern angesichts solcher Herausforderungen mehr Sicherheit und Wohlstand bietet und gleichzeitig unsere europäische Lebensweise und unsere Werte schützt. Die kroatische Ratspräsidentschaft spielt in dieser Hinsicht eine äußerst positive und konstruktive Rolle, indem sie mit den EU-Institutionen und anderen Mitgliedstaaten zusammenarbeitet und die Einheit, Solidarität und Beständigkeit der EU kontinuierlich stärkt.

HSS: Wie beurteilen Sie den Erfolg des virtuellen Zagreber EU-Westbalkan-Gipfels angesichts der Erwartungen zu Beginn der Ratspräsidentschaft?

Die Kommunikation per Videokonferenz während der Covid-19-Pandemie ist jetzt unsere neue Realität. Wir freuen uns, dass es der Europäischen Union unter kroatischer Ratspräsidentschaft vor dem Hintergrund der neuen Umstände gelungen ist, die Kontinuität der Arbeitsweise und die Entscheidungsfähigkeit innerhalb des Rates der Europäischen Union sicherzustellen. Die vorübergehende Änderung der Geschäftsordnung des Rates ermöglichte die Beschlussfassung im Umlaufverfahren sowie den Meinungsaustausch auf Minister- und anderer Ebene in Form von Videokonferenzen. Auf diese Weise haben wir 27 Videokonferenzen auf Ministerebene organisiert. Mit diesem Verfahren wurde auch der Beschluss über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien gefasst.

Wir haben zu keinem Zeitpunkt darüber nachgedacht, den EU-Westbalkan-Gipfel beziehungsweise den Zagreber Gipfel, der wirklich das zentrale Ereignis unserer Präsidentschaft darstellt, nicht abzuhalten. Wir wollten 20 Jahre nach dem ersten Zagreber Gipfel im Jahr 2000, bei dem Südosteuropa die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft erstmals eröffnet wurde, eine ebenso starke politische Botschaft senden.

Mit dieser Veranstaltung haben wir den Ländern des West-Balkans unsere Unterstützung bekundet, weil wir der Ansicht sind, dass es im Interesse Kroatiens liegt, dass sie die EU-Kriterien erfüllen und unserem Weg und unserem Beispiel folgen. Daher ist dieses Thema im Kontext unserer Präsidentschaft aus kroatischer Sicht eine Erfolgsgeschichte und wir glauben, dass dieser Gipfel und der Konsens über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien eine Art politisches Erbe unseres Vorsitzes im Rat der Europäischen Union sind. Alle Staats- und Regierungschefs der Länder Südosteuropas stimmten der Erklärung von Zagreb zu und akzeptierten sie ebenso wie die 27 EU-Mitgliedstaaten. Dies ist ein großer kroatischer Erfolg und der Zagreber Gipfel selbst ist die Krone unserer Ratspräsidentschaft. Die Erklärung von Zagreb zeigt, dass Kroatien die Initiative ergriffen und die europäische Perspektive unserer Nachbarschaft gestärkt hat. Kroatien wird darauf bestehen, dass die Länder des West-Balkans bei der Umsetzung der Reformen, bei der Erfüllung der Kriterien und bei der Erreichung der Standards die in der Zagreber Erklärung angegebenen Auflagen im Sinne ihrer europäischen Zukunft verwirklichen.

HSS: Herr Minister, wie danken Ihnen für das Gespräch.

Mann im Anzug, hält sich vornübergebeugt am Rednerpult fest. Engagiert redend.

Sandro Knesovic ist promovierter Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen am kroatischen „Institut für Entwicklung und Internationale Beziehungen“ (IRMO). Hier spricht er bei der Vorstellung der o.g. Studie zur EU-Ratspräsidentschaft Kroatiens im Dezember 2019 in Zagreb.

©HSS

Interview mit Politologe und Experte für Außen- und Sicherheitspolitik, Dr. Sandro Knezović

HSS: Im Dezember 2019 haben wir zusammen mit dem kroatischen Institut für Entwicklung und Internationale Beziehungen eine wissenschaftliche Publikation vorgestellt, in der analysiert wurde, welche Möglichkeiten sich für Kroatien als kleines EU-Land im Rahmen seiner bevorstehenden Ratspräsidentschaft ergeben. Wo sehen Sie die größten Aufgaben für Kroatien auch angesichts der beiden zusätzlichen unvorhergesehenen Ereignisse Corona-Pandemie und Erdbeben?

Dr. Sandro Knezov: Die historisch zu betrachtende erste Ratspräsidentschaft Kroatiens findet unter beispiellos komplizierten Umständen statt. Aber so sehr diese Umstände die Arbeitsweise der EU behindern, so sehr bieten sie auch neue Möglichkeiten und neue Führungsmodalitäten an, die unser Land, das die Ratspräsidentschaft bis Ende Juni innehat, bestätigen und bestärken. Nach den Reaktionen der EU zu urteilen, hat Kroatien die Möglichkeiten für eine wirksame Führungsrolle unter außergewöhnlichen Umständen maximal genutzt und sich damit großen Respekt innerhalb der EU und darüber hinaus erworben. Die spezifische Situation, in der sich Kroatien befand, also das Erdbeben in der Hauptstadt und die Virus-Pandemie, hat bei den anderen EU-Mitgliedstaaten zudem Solidarität hervorgerufen und folglich zu Synergien im Entscheidungsfindungsprozess unter der kroatischen Ratspräsidentschaft geführt.

HSS: Ist mit den veränderten Rahmenbedingungen auch eine real veränderte Prioritätenliste der kroatischen Ratspräsidentschaft verbunden? Gelten die proklamierten Leitsätze überhaupt noch und wenn ja, in wieweit? 

Die grundlegenden Prioritäten der kroatischen Ratspräsidentschaft blieben bisher nominell gleich, müssen jedoch in direkter Korrelation mit dem von der Corona-Pandemie definierten realen EU-Umfeld betrachtet werden. Selbst die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU spiegeln diese aktuelle Realität wider. So wird versucht, gegenseitige Solidarität innerhalb der EU und darüber hinaus in Richtung Westbalkan im Kampf gegen die Pandemie zu maximieren. Die Pandemie stellt ja eine große Herausforderung für die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten dar, hat jedoch auch erhebliche Auswirkungen auf deren jeweilige Wirtschaftssituation. All dies erfordert ernsthafte Umstrukturierungen, um sich an die neue Situation anzupassen, was sich dann natürlich auch auf den Prozess der Ratspräsidentschaft auswirkt hat.

HSS: Wie bewerten Sie die konkreten Ergebnisse des EU-Westbalkan-Gipfels? Ein Erfolg der kroatischen Ratspräsidentschaft, oder ein Erfolg der neuen EU-Kommission, insbesondere des ungarischen Erweiterungskommissars, oder beides?

Die Aufnahme der Verhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien ist sowohl in politischer als auch in diplomatischer Hinsicht ein großer Erfolg. Es handelt sich um eine EU-Entscheidung, die sowohl auf der Bewertung der Fortschritte bei Strukturreformen dieser Länder als auch auf einer Kompromisslösung innerhalb der EU-Mitgliedsländer bezüglich des EU-Erweiterungsprozesses beruht. In diesem Sinne ist es eine gemeinsame Leistung, also der kroatischen Ratspräsidentschaft, aber auch der Europäischen Kommission, die den gesamten Prozess durch methodische Anpassungen unterstützt hat.

HSS: Dr. Knezović, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Text und Interviewführung: Dr. Klaus Fiesinger, HSS-Repräsentant und Regionalleiter für Südosteuropa, Projektleiter für Kroatien, Serbien/Montenegro, Bulgarien und Albanien

Südosteuropa
Armin Höller
Leiter