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Interview - Olympia 1972
Jahrhundertspiele

Die "heiteren Spiele" sollten 1972 in München eine tragische Wendung nehmen. Nicht der Maskotchen-Dackel "Waldi" oder der Jubel nach dem Goldsprung von Ulrike Meyfarth blieben in Erinnerung, sondern der Terror und 12 Tote. Die beiden SZ-Redakteure Dr. Roman Deiniger und Uwe Ritzer haben mit uns über ihr neues Buch gesprochen: "Die Spiele des Jahrhunderts - Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland"

1972: Das neue, demokratische Deutschland will sich auf den Olympischen Spielen der Welt präsdentieren. Doch alles kam schrecklich anders. Die Geiselnahme der israelischen Atlethen durch palästinensische Terroristen und die Ermordung von zwölf Menschen gaben den Olympischen Spielen in München eine neue, historische Dimension. In ihrem Buch beschreiben die beiden SZ-Redakteure Uwe Ritzer und Dr. Roman Deininger, wie München trotzdem zur "Weltstadt mit Herz" werden konnte.
Bei einer Lesung in unserem Kloster Banz zu Beginn des Jahres hatten wir die Gelegenheit, mit den beiden über ihr Werk, Terror und Transparenz zu sprechen.

Die beiden Männer sitzen leger gekleidet hinter ihren Tischen vor einem Bildschirm, auf dem Bilder von 1972 aus München gezeigt werden.

Dr. Roman Deininger ist Chefreporter bei der Süddeutschen Zeitung. Sein Kollege Uwe Ritzer ist SZ-Wirtschaftskorrespondent und Investigativ-Reporter mit Sitz in Nürnberg.

© HSS; M. Hahn

HSS: Sie beide sind durch Ihre Berichterstattung in der SZ und besonders durch Ihre beiden Bücher über Markus Söder bekannt geworden. Wieso nun ein Buch über die Olympischen Spiele in München und nicht etwa noch eine Politikerbiographie?

Uwe Ritzer: Abwechslung tut immer gut und es braucht auch immer neue, intellektuelle Herausforderungen. Als Buchautoren vergraben wir uns ja über mehrere Jahre in ein Thema – das will also gut gewählt sein. Roman und ich teilen das Interesse an Sport, Politik und Geschichte. Bei Olympia 1972 traf dies alles aufeinander, im Guten wie im Bösen. Ein neues, demokratisches Deutschland präsentierte sich der Welt. Zugleich wies die Ermordung von Juden auf deutschem Boden direkt zurück in die Finsternis vor 1945. Für München, Bayern und auch für Deutschland waren diese Spiele ein Jahrhundertereignis.

HSS: Was fesselt Sie so an München 1972?

Dr. Roman Deininger: Dass beides die Zeit überdauert hat: der Schrecken des Attentats, aber auch das warme Gefühl der heiteren Spiele. So viele Interviewpartner, die damals dabei waren, haben uns gesagt: Das war der Sommer unseres Lebens. Alle erinnern sich an diese Leichtigkeit, verkörpert vom verwegenen Dach des Olympiastadions und von Otl Aichers elegantem Design. Der Anschlag hat der Leichtigkeit dann ein jähes Ende gesetzt. Es war der Moment, in dem der internationale Terrorismus ins Bewusstsein einer breiten Bevölkerung trat. Eine kollektive Live-Erfahrung: Die ganze Welt erlebte an den Fernsehern mit, wie sich das Unheil entfaltete. Das ist eigentlich nur mit den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA vergleichbar.

Ein Atleth küsst eine Medaille.

Trotz des berühmten Satzes "The games must go on", von IOC-präsident Brundage, gerieten die sportlichen Leistungen 1972 zur Nebensache.

© HSS; M. Hahn

HSS: Sie haben viele Gespräche mit Zeitzeugen der Spiele geführt und verarbeiten sie in faszinierenden, oft sehr persönlichen Episoden in ihrem Buch. Welche Gesprächspartner haben Sie besonders beeindruckt?

Deininger: Besonders berührt waren wir, dass wir noch kurz vor seinem Tod im Juli 2020 ausführlich mit Hans-Jochen Vogel sprechen konnten, der als Oberbürgermeister die Spiele nach München geholt hatte. Er hat uns in seinem Apartment im Altenheim Augustinum empfangen – 12. Stock, Blick auf den Olympiapark. Als Sportfans haben wir es natürlich auch genossen, mit vielen Athleten von damals zu reden. Zum Beispiel mit Ulrike Meyfarth, Heide Rosendahl, Renate Stecher, Klaus Wolfermann oder Uli Hoeneß.

Ritzer: Toll fanden wir, dass einige Gesprächspartner uns auch tatkräftig mit Unterlagen unterstützt haben. Etwa der Landshuter Alt-Oberbürgermeister Josef Deimer, der als junger Landtagsabgeordneter mit dafür gesorgt hatte, dass in Bayern nicht nur die Landeshauptstadt von Olympia profitiert. Partien des Fußballturniers fanden dann ja auch in Augsburg, Ingolstadt, Nürnberg, Passau und Regensburg statt.

HSS: Welche Recherchen waren besonders anspruchsvoll? Wie sind Sie vorgegangen, um aus der Fülle an Informationen ein so kurzweiliges und lesbares Buch zu machen?

Ritzer: Wir haben natürlich viel Zeit in Archiven verbracht und dort Dokumente gesichtet, auch altes Filmmaterial. Wegen Corona konnten wir leider nicht wie geplant nach Israel reisen, um mit den Hinterbliebenen der Anschlagsopfer zu sprechen – aber das ging dann auch gut per Telefon. Es war bewegend, mit Ankie Spitzer zu sprechen, die 1972 ihren Mann, den israelischen Fechttrainer Andrej Spitzer, verloren hat und seitdem für eine Aufarbeitung der Hintergründe des Anschlags kämpft. Eine beeindruckende Frau.

Deininger: Beim Schreiben haben wir uns dann vorgenommen, die Geschichte der Spiele sehr ernsthaft und präzise, aber auch dramatisch und unterhaltsam zu erzählen. Deswegen ist unser Buch auch im Präsens geschrieben.

Das Buch wird von einer Hand ins Bild gehalten. Im Hintergrund der Innenhof des Klosters Banz.

"Die Spiele des Jahrhunderts" beschreibt, wie München und damit ganz Deutschland 1972 aus dem Schatten der NS-Zeit treten wollte. Es herrschte Aufbruchsstimmung, der Wiederaufbau war geschafft, man wollte sich locker und demokratisch zeigen.

© HSS; M. Hahn

HSS: Sie beide sind zu jung, um sich persönlich an die Spiele in München zu erinnern. Wie ist Ihr persönlicher Bezug zu Olympia 1972? Wurde in Ihren Familien oder Freundeskreisen über das Thema gesprochen?

Ritzer: Ich war sieben Jahre alt, erinnere mich aber gut an die Begeisterung vor allem meines sehr sportaffinen Vaters. Und dann die Bilder der Terroristen mit ihren Kapuzen. Ich sah sie und verstand sogar als Knirps, dass da etwas ganz besonders Schreckliches passiert ist.

Deininger: Ich bin sechs Jahre nach den Spielen geboren, und trotzdem hatte ich viele Bilder von damals im Kopf. Ulrike Meyfarth beim Jubel nach ihrem Goldsprung oder Maskottchen-Dackel Waldi mit seinem Ringelbauch. Meine Eltern haben einen Bildband von Olympia 1972 im Schrank, das war wahrscheinlich mein erster Kontakt mit dem Thema.

HSS: Die "heiteren Spiele" werden in der heutigen Erinnerung durch den Anschlag auf die israelische Mannschaft und den tragischen Tod von 11 Sportlern und einem Polizisten dominiert. Kann man überhaupt von den Sommerspielen 1972 berichten, ohne dieses Ereignis zum alleinigen Mittelpunkt der Erzählung zu machen?

Ritzer: Die brutale Ermordung von zwölf Menschen überlagert natürlich alles, was vorher war. Aber das, was vorher war, muss man kennen, um die ganze Grausamkeit und Tragik des Anschlags zu verstehen. In unserem Buch versuchen wir zu zeigen, dass es im Vorfeld der Spiele viele Warnungen und Alarmzeichen gab, die Polizei, Politik und Organisationskomitee ignoriert haben. Das geschah zwar in bester Absicht: Man konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas die heiteren Spiele stören könnte. Aber es war schockierend naiv und grob verantwortungslos, ein historisches Versagen.

HSS: Wie sehen Sie aus heutiger Sicht die Haltung des IOC um Präsident Avery Brundage, die Spiele danach fortzusetzen?

Deininger: Es gibt keinen Zweifel, dass das IOC damals einen schrecklichen Zynismus an den Tag gelegt hat. Für IOC-Präsident Avery Brundage konnte es nach der Trauerfeier gar nicht schnell genug weitergehen mit den Wettbewerben. Sein berühmter Satz „The games must go on“ war einerseits eine eigenmächtige Entscheidung, Brundage war ja so etwas wie der olympische Alleinherrscher. Anderseits kamen auch viele andere Beteiligte – etwa Hans-Jochen Vogel und Organisationschef Willi Daume – nach innerem Ringen zu dem Ergebnis, dass ein Abbruch der Spiele eine Kapitulation vor dem Terror bedeutet hätte. Auch viele Sportler waren hin und her gerissen, einige Dutzend sind dann auch abgereist. Aus heutiger Sicht wäre ein Abbruch wohl zwingend gewesen. Aber man muss die Dinge aus ihrer Zeit heraus verstehen.

HSS: Ist es legitim, im Jahr 2022 von einem "Jubiläum" der Olympischen Spiele 1972 zu sprechen oder sollte eine Erinnerung an die Spiele in erster Linie eine Erinnerung an das Attentat sein?

Ritzer: Die Spiele von München wirken bis heute nach, und zwar zweifach. Auf der einen Seite stehen der Anschlag und die schweren Fehler der Sicherheitsbehörden, die der deutsche Staat bis heute nicht konsequent aufgearbeitet hat. Auf der anderen Seite steht die junge Bundesrepublik, das neue demokratische Deutschland, das 1972 in München aus dem Schatten der Nazi-Zeit trat. Beides hat historische Bedeutung, und deshalb sollte man sich auch an beides erinnern. Die Frage ist, wie man das tut. Unser Eindruck ist, dass die Stadt München da einen würdigen Weg findet. Ganz wesentlich sollte der ständige Dialog mit den Hinterbliebenen der Anschlagsopfer sein, die sich natürlich eine Konzentration auf das Gedenken wünschen.

Deininger: Es ist auch eine berechtigte Forderung der Opferfamilien, nach einem halben Jahrhundert endlich Zugang zu bislang gesperrten Akten über das Olympia-Attentat zu bekommen. Solange wichtige Dokumente verschlossen sind, bleiben viele Wunden offen. Deutsche Behörden haben ihr Versagen von damals lange vertuscht – umso mehr sollten sie sich jetzt zu Transparenz verpflichtet fühlen.

HSS: Orte und Städte, in denen die Spiele einmal ausgetragen wurde, haben im weltweiten Bekanntheitsgrad enorm zugelegt und oft an Prestige gewonnen. Wie war das in München? Wurde München 1972 zur Weltstadt mit Herz?

Deininger: Der Slogan „Weltstadt mit Herz“ stammt aus dem Jahr 1962, er spiegelte das Wachstum Münchens nach dem Krieg wider, einen großen Aufbruch. Aber es war dann nicht zuletzt Olympia, das die Worte mit Leben füllte. Vor den Spielen gab es internationale Umfragen, die belegten, dass München im Ausland eh schon sehr beliebt war, für seine Alpennähe und Biergemütlichkeit. Doch die Stadt trug auch den Ballast, „Hauptstadt der Bewegung“ gewesen zu sein. 1972 hat sich dann trotz des Olympia-Attentats das sonnige Image des schönen Münchens in der Welt verfestigt.

HSS: Profitiert die Stadt im Jahr 2022 noch immer von den Olympischen Spielen 1972? Wo spürt man Ihrer Meinung nach heute noch besonders den Geist der Spiele von 1972?

Ritzer: München hat wie kaum ein Ausrichter davor und danach von den Spielen profitiert. Olympia war für die Stadt ein Sprung in die Moderne: der S- und U-Bahn-Bau wurde enorm beschleunigt, die Altstadt verkehrsberuhigt, der Mittlere Ring fertiggestellt. Der Olympiapark ist bis heute eine der grünen Lungen der Stadt – dort spürt man den Geist von 1972 am stärksten. Das Stadiondach ist atemraubend wie am ersten Tag. Wir haben uns übrigens vorgenommen, 2022 mal in die Olympiaschwimmhalle zu gehen – und in dasselbe Becken zu springen, in dem Mark Spitz vor fünfzig Jahren sieben Mal Gold holte.


Das Interview führte Michael Hahn, HSS

Politische Grundlagen, Demokratie und Werte
Michael Hahn
Leiter