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Therapie oder Entwicklungsräume schaffen?
Menschen mit Autismus in Bayern

Die therapeutischen Angebote für Menschen mit Autismus in Bayern standen im Fokus einer Fachtagung der Hanns-Seidel-Stiftung in Kooperation mit dem Autismuskompetenzzentrum Oberbayern am 21. April 2016 im Konferenzzentrum München. Über 350 Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten über die Herausforderungen für Wissenschaft, Leistungserbringer, Politik und Gesellschaft.

Alois Glück

Alois Glück

Alois Glück, der Stellvertretende Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung und Schirmherr der Autismus Kompetenzzentrum Oberbayern gGmbH (autkom), eröffnete die nunmehr dritte Fachtagung zum Thema „Menschen mit Autismus in Bayern“ und betonte die gesellschaftliche Relevanz dieser Veranstaltungsreihe. Anlässlich der Etablierung von Autismuskompetenzzentren in den bayerischen Bezirken haben die Hanns-Seidel-Stiftung und autkom 2010 eine erste gemeinsamen Fachtagung zu den grundlegenden Herausforderungen im Bereich der Hilfestellungen für Menschen mit Autismus durchgeführt. Die zweite gemeinsame Fachtagung behandelte 2013 den Themenkomplex Inklusion, die dritte Fachtagung 2016 befasste sich nun mit therapeutischen Angeboten für Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Relevante Fragen, die es hier zu klären galt, waren: Was kann Therapie leisten? Was fordern Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung und deren Angehörige? Welche Therapieangebote und -bedarfe gibt es? Welche Therapien sind evidenzbasiert? Von wem können wir in diesem Bereich lernen? Brauchen wir in Bayern neben den Autismus-Zentren auch ein Netz von Autismus-Therapiezentren?

Irmgard Badura

Irmgard Badura

Bezirketagspräsident Josef Mederer unterstrich in seiner Begrüßung, dass der Bayerische Bezirketag bereits 2008 das Bayerische Rahmenkonzept Autismus-Kompetenz-Netzwerk verabschiedet hat, was die Grundlage für die Bildung der acht Autismuskompetenzzentren war, die die Bezirke mit nunmehr über 900.000 € jährlich fördern. Die Behindertenbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Irmgard Badura, betonte in ihrem Grußwort, dass bereits einiges erreicht wurde, aber weiterhin medizinische und gesellschaftliche Härten für Betroffene und Angehörige bestehen.Der Geschäftsführer von autismus Deutschland e.V., Christian Frese, informierte in seinem Grußwort über den Bundesverband und sein Engagement für eine flächendeckende Versorgung durch Autismus-Therapie-Zentren.

Den anschließenden Auftakt der Referenten, unter denen Vertreter aus Wissenschaft und Versorgung sowie Betroffenen und Angehörigen waren, machte Prof. Peter Rödler von der Universität Koblenz-Landau. Er beleuchtete den pädagogischen Blick auf den Einzelfall und gab anhand eines Films zu bedenken, dass das im Vergleich als „pathologisch“ gewertete Verhalten auch eine kompensatorische Leistung sein kann, die weitestgehende Normalität erlaubt. Das beobachtete Verhalten wäre dann nicht „das Problem“, sondern eine intelligente Lösung des Problems. Über evidenzbasierte Therapien bei Autismus-Spektrum-Störungen referierte Prof. Christine M. Freitag vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Sie diskutierte unterschiedliche altersbezogene Therapieansätze, informierte über Diagnostik-Leitlinien und Förderziele und präsentierte das Frankfurter Frühinterventionsprojekt und das Frankfurter Autismus-Elterntraining.

Josef Mederer

Josef Mederer

Über die Erfahrungen von Menschen mit Autismus sprach Ilonka Dahlmann, von der Selbsthilfegruppe Erwachsene Autisten Südbayern. Sie zeigte auf, wie belastend der Spagat zwischen sozialer Anpassung und gelebter Authentizität sein kann. Christiane Nagy von autismus Oberbayern e.V. vertrat die Angehörigen und benannte als Erwartung an eine Therapie: „im Umgang mit unserem Kind sicherer werden“. Im Anschluss daran referierte Prof. Matthias Dose, Facharzt für Psychiatrie/Psychotherapie und kbo-Berater für Autismus-Spektrum-Störungen und Huntington-Krankheit, über Qualitätsanforderungen an Therapieangebote. Er sensibilisierte für fragwürdige Angebote und erläuterte Methodik und Ziel der Leitlinien zu Autismus-Spektrum-Störungen. Dr. Martina Schabert vom Autismus Kompetenzzentrum Oberbayern und Dr. Karolin Gruber von der Ludwig-Maximilians-Universität München beleuchteten Angebot und Nachfrage von autismusspezifischen Therapien. Die Referentinnen kamen zu dem Ergebnis, dass ein bayernweiter Bedarf an einem Ausbau therapeutischer Angebote für alle Altersgruppen bestünde, besonders im ländlichen Raum. Prof. Reinhard Markowetz von der Ludwig-Maximilians-Universität München sprach zum Thema Schule und Individualbegleitung. Er plädierte für Inklusion, jedoch behutsam und qualitativ hochwertig. Anhand von Beispielen aus der eigenen Praxis veranschaulichten Claus Lechmann vom AutismusTherapieZentrum Köln und Dr. Friedrich Voigt vom kbo-Kinderzentrum München unterschiedliche Therapiemöglichkeiten. Lechmann zeigte anhand eines Videos die Möglichkeiten der Früherkennung auf, Dr. Voigt erläuterte die speziellen Schwerpunkte für Autismus-Spektrum-Störungen im sozialpädiatrischen Zentrum. Anschließen wurde die Schlüsselfrage „Wie kann eine bedarfsgerechte Förderung und Therapie für Menschen mit Autismus über die Lebensspanne in Bayern gewährleistet werden?“ aus politischer Sicht erörtert. Bernhard Seidenath, MdL, Stv. Landtagsausschussvorsitzender für Gesundheit und Pflege sowie Gesundheits- und pflegepolitischer Sprecher der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, formulierte sieben Forderungen. Er plädierte u.a. für eine Autismusstrategie, für mehr Therapiegruppen für Erwachsene, eine bessere Integration Betroffener in das Arbeitsleben und mehr ausgebildete Fachkräfte.

Joachim Unterländer, MdL, Landtagsausschussvorsitzender für Arbeit und Soziales, Jugend, Familie und Integration, machte deutlich, dass die Politik den Handlungsbedarf im Bereich Autismus-Spektrum-Störungen erkannt hat. Er sprach sich für eine stärkere Vernetzung von Politik, Wissenschaft, Versorgung, Betroffenen und Angehörigen aus und forderte bei der Versorgung einen reibungsloseren Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter. Der Präsident des Bayerischen Bezirketags, Josef Mederer, betonte die Relevanz eines Netzwerks zur Bündelung und Verbreitung von Behandlungs- und Versorgungskompetenz. Um flächendeckend Spezialeinrichtungen und Dienste vorzuhalten, gäbe es nicht das medizinische und sozialpädagogische Fachpersonal in der erforderlichen Zahl und Qualität. Daher müsse es darum gehen, Bestehendes weiter zu qualifizieren und die verschiedenen Hilfesysteme zu befähigen, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen sachgerecht zu versorgen, so Mederer. Die Schlüsselfrage wurde dann in der Podiumsdiskussion weiter vertieft mit Dr. Martin Sobanski, Vorstandsvorsitzender des Autismus-Kompetenznetzwerk Oberbayern und Oberarzt am kbo-Heckscher-Klinikum, Dr. Leonhard Schilbach, Oberarzt und Leiter der Ambulanz für Störungen der Sozialen Interaktion sowie Forschungsgruppenleiter am Max-Planck- Institut für Psychiatrie München, mit Christian Frese, Josef Mederer, Bernhard Seidenath, Joachim Unterländer und Prof. Peter Rödler. In der Diskussion unterstrich Dr. Sobanski den individuumszentrierten Ansatz. Es ginge darum, die Funktion der Disfunktionalität zu erkennen, d.h. zu „verstehen“ und nicht nur die Symptome wegzutherapieren, so Sobanski. Dr. Schilbach stellte die Mängel im Bereich der Diagnostik und Therapie für Erwachsene mit hochfunktionalem Autismus heraus und kritisierte die unzureichende Unterstützung für diese Personengruppe bei der Berufsfindung. Personen mit hochfunktionalem Autismus sind im Durchschnitt besser qualifiziert als Menschen ohne Autismus, aber untragbarerweise sehr viel häufiger arbeitslos, so Schilbach.

Abschließend stellten sich die Referenten den Fragen des Publikums. Die Gesamtmoderation der Veranstaltung oblag Prof. Matthias Dose.