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Russlands Sicht auf Belarus
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach

Seit der Präsidentschaftswahl am 9. August erlebt Belarus die bisher größte Protestwelle seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991. Die Opposition wirft den Behörden Wahlfälschung vor, und seit dem Wahlabend blickt die Welt gebannt darauf, wie sich der große Nachbar Russland angesichts der bisher ungekannten Proteststimmung in Belarus verhält. Unser Vertreter in Moskau, Jan Dresel, analysiert die russische Sicht auf die jüngsten Entwicklungen in Belarus.

  • Moskau sieht „Probleme“ in Belarus, steht aber nach wie vor an der Seite Lukaschenkos
  • Damit will die russische Führung Zeit gewinnen, dürfte sich mittel- und langfristig aber auf die Unterstützung eines Moskau gewogenen Nachfolgers konzentrieren
  • Bis dahin dürfte Moskau von einem geschwächten und von Russland gestützten Lukaschenko dessen Zustimmung zur vertieften Integration beider Länder verlangen
  • Babariko als möglicher Nachfolger Lukaschenkos könnte für Moskau akzeptabel sein

Proteste am 16. August in Mogiljow, der drittgrößten Stadt von Belarus. Es sind bei Weitem nicht nur junge Leute auf der Straße.

©HSS

Laut dem offiziellen amtlichen Endergebnis hat der seit 26 Jahren amtierende Präsident Alexander Lukaschenko, den der ehemalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle vor Jahren öffentlich als letzten Diktator Europas bezeichnete, mit mehr als 80% der Stimmen die Wahl gewonnen. Die Opposition spricht hingegen von Wahlfälschungen und zeigt sich überzeugt davon, dass die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja mehr Stimmen erhalten hat als Lukaschenko. Seit dem Wahlabend fordern die Protestierenden daher beharrlich einen Dialog mit dem langjährigen Machthaber, um faire und freie Neuwahlen zu erreichen - was Lukaschenko kategorisch ablehnt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie sich Russland angesichts dieser Entwicklungen verhält. Es betrachtet Belarus nicht zuletzt aufgrund der kulturellen Nähe, der traditionell engen familiären Bindungen und der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern als Teil seiner Einflusssphäre und hat nach eigenem Bekunden ein großes Interesse an Stabilität im Nachbarland. Dmitri Trenin, Direktor der Denkfabrik Carnegie Moscow Center, hat bereits Mitte August vier Handlungsoptionen für Moskau formuliert: erstens eine militärische Intervention in Belarus, zweitens schlichtes Abwarten ohne jegliches Eingreifen Russlands, drittens eine Umarmungstaktik gegenüber Lukaschenko und viertens die Unterstützung und Steuerung eines Machtwechsels in Belarus.

Zwei Welten prallen am 30. August aufeinander - bei den Protestierenden herrscht eher Volksfeststimmung, während die Sicherheitskräfte in martialischer Haltung einen abgeriegelten Bereich bewachen.

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Polizei statt Militär

Welche dieser Handlungsoptionen wird Moskau nun wählen? Nachdem sich der russische Präsident Wladimir Putin in den ersten Tagen nach der Präsidentschaftswahl mit Kommentaren über die Situation in Belarus auffallend zurückgehalten hatte, begann knapp eine Woche nach der Wahl eine Phase der engen telefonischen Abstimmung zwischen Lukaschenko und Putin. Zeitweise telefonierten die beiden Staatsoberhäupter fast täglich. Der russische Präsident sicherte Lukaschenko militärischen Beistand zu für den Fall, dass es zu einer äußeren Einmischung in die inneren Angelegenheiten des russischen Unionsstaats- und Bündnispartners Belarus kommen sollte. Diese einschränkende Verknüpfung militärischen Beistands mit dem Fall einer Invasion von außen, für die es freilich keinerlei Anzeichen gibt, lässt darauf schließen, dass ein möglicher Einsatz regulärer russischer Truppen in Belarus derzeit für Moskau nicht in Frage kommt.

Damit wäre die erste der von Trenin skizzierten Handlungsoptionen, eine militärische Intervention, ausgeschlossen. Allerdings erklärte Putin in einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen am 27. August, dass er auf Bitte Lukaschenkos eine Reservetruppe an Polizeikräften habe zusammenstellen lassen, die auch dann eingesetzt werden könne, wenn die Lage in Belarus außer Kontrolle gerate - unabhängig vom Verteidigungsfall. Eine solche Lage könne nach Putins Worten etwa dann gegeben sein, wenn „extremistische Elemente“ Autos, Häuser oder Bankgebäude in Brand setzen oder Verwaltungsgebäude beschlagnahmen würden. Er sei sich aber mit Lukaschenko darüber einig, dass es derzeit keinen Bedarf für einen Einsatz dieser Reservetruppe gebe und zeigte sich überzeugt, dass die derzeitigen „Probleme“ in Belarus im Rahmen der verfassungs- und gesetzmäßigen Ordnung und mit friedlichen Mitteln gelöst würden.

Ein ungewöhnlicher Ort für eine Demonstration - hier wählten Protestierende ein Parkhaus, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Die Oppositionsbewegung fällt allgemein immer wieder durch kreative Ideen auf.

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Opposition wird diffamiert

Abgesehen davon ist die russische Präsenz in Belarus auf subtilere Weise schon jetzt spürbar. So ersetzen russische Journalisten streikende Mitarbeiter der staatlichen Medienanstalten. Die Beschäftigung „ausländischer Streikbrecher“ wird selbst von der Föderation unabhängiger Gewerkschaften Russlands (FNPR), die der Regierungspartei Einiges Russland nahesteht, heftig kritisiert und als „destruktiv“ bezeichnet, was äußerst bemerkenswert ist - schließlich ist die FNPR Teil des Machtapparats und entsendet Gewerkschaftsfunktionäre und -mitglieder in die Staatsduma. Man kann durchaus die Schlussfolgerung ziehen, dass sich damit ein Teil der russischen Führung schon jetzt von Lukaschenko distanziert.

Außerdem soll Lukaschenko auch IT-Spezialisten und PR-Berater aus Russland zur Unterstützung der offiziellen Regierungskommunikation eingeflogen haben. Kreise, die Lukaschenko nahestehen, organisieren Großdemonstrationen zur Unterstützung des Amtsinhabers, die es in der ersten Woche nach der Präsidentschaftswahl nicht gegeben hatte. Die staatliche Propaganda mit dem Ziel, die Opposition zu diskreditieren und diffamieren, ist inzwischen voll angelaufen und hat deren Demobilisierung und Einschüchterung zum Ziel. Zwar ist von außen im Einzelfall schwer nachvollziehbar, ob und inwieweit russische Polittechnologen daran konkret beteiligt sind, doch hat sich die öffentliche Kommunikation Lukaschenkos in den vergangenen Tagen auffällig stark gewandelt. Sie hat sich der Berichterstattung in russischen Staatsmedien angeglichen und ist - von Ausnahmen abgesehen - tendenziell moderater, professioneller und damit für Lukaschenko effizienter geworden. Damit ist die zweite von Trenin formulierte Handlungsoption inzwischen überholt, denn Russland hat bereits Einfluss auf die Situation im Nachbarland genommen.

Besonders auffällig ist die von der Opposition gehisste weiß-rot-weiße Flagge in der Bildmitte. Das Wetter Mitte August war definitiv auf Seiten der Demonstranten.

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Umarmungstaktik oder Unterstützung eines Machtwechsels?

Bleiben noch Trenins dritte und vierte Handlungsoption, die Umarmungstaktik gegenüber Lukaschenko und die Unterstützung bzw. Steuerung eines Machtwechsels in Belarus - oder eine Kombination von beiden. Kurzfristig hat sich Moskau inzwischen dafür entschieden, Lukaschenko zunächst weiter zu unterstützen, allein schon um die Stabilität im Nachbarland zu garantieren - notfalls sogar mit der bereits erwähnten Reservetruppe der Polizei. Zweifellos ist diese Entscheidung auch verbunden mit dem Kalkül, von einem geschwächten und von Russland gestützten Lukaschenko Zugeständnisse in der Frage einer vertieften Integration beider Länder im Rahmen des bestehenden Unionsstaats zu erreichen - für Belarus ein hoher Preis. Einige Kommentatoren rechnen bereits für Mitte September mit der Unterzeichnung entsprechender Dokumente, wenn Lukaschenko in Moskau erwartet wird.

Das derzeitige Bekenntnis zum aktuellen Machthaber kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die russische Führung mittel- und langfristig auf die Unterstützung eines aus ihrer Sicht geeigneten Nachfolgers setzen und damit schon jetzt für die Zeit nach Lukaschenko vorbauen dürfte. Immerhin hat der aktuelle belarussische Präsident aus Sicht Moskaus die von Russland betriebene vertiefte Integration beider Länder im Rahmen des Unionsstaats seit Langem blockiert und die russische Führung immer wieder durch aus deren Sicht unangemessene wirtschaftliche Forderungen etwa beim Thema Gaspreise verärgert.

Auch in der russischen Bevölkerung hat sich der Eindruck durchgesetzt, Lukaschenko sei undankbar gegenüber Russland. Schließlich habe Moskau es ihm überhaupt erst ermöglicht, durch Vorzugsbehandlung bei Rohstofflieferungen, wiederholtes Entgegenkommen in wirtschaftlichen Fragen und die Gewährung großzügiger Kredite immerhin ein bescheidenes Wohlstandniveau in Belarus aufbauen zu können. Nicht nur zahlreiche oppositionell gesinnte Russen, sondern auch viele erklärte Unterstützer der russischen Regierungspolitik stehen der Person Lukaschenkos daher inzwischen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Es ist vielmehr die Bewertung der Proteste in Belarus, die eher regierungsfreundlich und tendenziell oppositionell eingestellte Russen entzweit. Während Letztere fast geschlossen Sympathie für die Proteste im Nachbarland zeigen, findet man unter den Unterstützern der Regierung mitunter durchaus auch Verständnis etwa für das harte und teilweise brutale Vorgehen der belarussischen Sicherheitsbehörden gegenüber Demonstranten - schließlich gelte es, unter allen Umständen einen zweiten Maidan wie 2013/2014 in der Ukraine zu vermeiden.

Weiße und rote Luftballons und Blumen sind Erkennungsmerkmale der Opposition in Belarus. Auch außerhalb von Minsk versammelten sich Zehntausende.

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Vermittlung Russlands nur mit Zustimmung Lukaschenkos

Wie positioniert sich nun das offizielle Russland politisch zu den jüngsten Ereignissen in Belarus? Der russische Außenminister Sergej Lawrow machte dies im Anschluss an sein Treffen mit dem ersten stellvertretenden US-Außenminister, Stephen Biegun, am 25. August deutlich. In einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen sagte Lawrow, er sei sich mit Biegun darüber einig gewesen, dass die Behörden in Belarus und die dortige Opposition einen Dialog miteinander beginnen sollten. Allerdings, so der russische Außenminister weiter, könne niemandem in Belarus ein bestimmter Vermittler aufgedrängt werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um die OSZE, die EU oder „irgendein Nachbarland“ handle. Damit schloss er implizit auch eine Vermittlerrolle Russlands ohne Zustimmung aller Beteiligten in Belarus aus.

Bereits am 23. August hatte Lawrow die offizielle Haltung Russlands zur Lage in Belarus bei „Территория смыслов“ (Territorium der Sinne), einem staatlich geförderten Forum für angehende Nachwuchskräfte, erläutert. Nach seiner Aussage sei einer der Gründe für die Massenproteste in Belarus der angebliche Wunsch des Westens, einen Keil zwischen Russland und seine Nachbarstaaten zu treiben - ein Narrativ, das freilich an seine Grenzen stößt, wenn selbst Tausende belarussischer Staatsbediensteter die Polizeigewalt anprangern und eine faire Auszählung der Stimmen fordern.

Am 30. August gingen trotz Androhung von Festnahmen mit Polizeilautsprechern wieder zehntausende von Menschen auf die Straße - manche Quellen sprechen sogar von 300.000 Teilnehmern.

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Lieber den Spatz in der Hand...

Diese inzwischen wohlbekannte Abgrenzung Russlands vom Westen und gleichzeitige Solidarisierung mit Lukaschenko kommt zwar nicht überraschend, erschwert aber naturgemäß die Abstimmung zwischen Russland und der EU zur Lösung der derzeitigen Lage in Belarus. Lawrow fuhr fort, das belarussische Volk entscheide selbst, wie es aus der derzeitigen Situation wieder herauskomme; es gebe bereits erste Anzeichen für eine Normalisierung der Lage. Die jüngsten Vorschläge Lukaschenkos für eine Verfassungsreform böten hervorragende Möglichkeiten zum Beginn eines Dialogs. Immerhin eine Option, die möglicherweise auch für einen Teil der belarussischen Opposition denkbar wäre und die es dem derzeitigen Amtsinhaber später ermöglichen würde, ohne größeren Gesichtsverlust abzutreten.

Für Moskau scheint jedenfalls bis auf weiteres zu gelten: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Mit anderen Worten: Besser ein unbequemer Autokrat, den man nun endgültig an sich gebunden zu haben scheint, als eine durch freie und faire Wahlen legitimierte Opposition, die zwar keineswegs russlandfeindlich auftritt, deren Erfolg aus russischer Sicht aber dennoch unberechenbare Auswirkungen auf das bilaterale Verhältnis haben könnte. Und - auch das könnte eine Rolle spielen - eine unkalkulierbare Signalwirkung an die Opposition im eigenen Land aussenden könnte. In der Tat scheint sich die russische Führung letztlich auch deshalb auf die Seite der aktuellen Machthaber in Belarus geschlagen zu haben, weil sie befürchtet, dass deren Sturz der russischen Opposition - so schwach und fragmentiert sie sich im Vergleich zur belarussischen auch darstellen mag - Auftrieb geben könnte.

Die russische Opposition blickt selbst mit viel Sympathie, teils aber auch etwas eifersüchtig nach Belarus. Dies hatte der bekannte Kreml-Kritiker Alexei Nawalny, der inzwischen in einem Berliner Krankenhaus behandelt wird, in der Woche vor seinem Zusammenbruch während eines innerrussischen Flugs in seiner wöchentlichen Talkshow auf YouTube mit einem Augenzwinkern auf den Punkt gebracht. So hatte er das Bild eines jungen russischen Oppositionellen gezeichnet, der mit seiner durchaus attraktiven Lebensgefährtin unterwegs ist, die sinnbildlich für die monatelangen Proteste im russischen Chabarowsk gegen die von Moskau erwirkte Absetzung des dortigen Gouverneurs steht. Und der dabei, zur sichtlichen Verärgerung seiner Freundin, einer nicht minder attraktiven anderen Frau hinterherschaut, die sinnbildlich für die Proteste in Belarus steht. Im Klartext: Ein großer Teil der russischen Opposition hat ihre Aufmerksamkeit von Chabarowsk im Fernen Osten Russlands nach Belarus verlagert, da die Proteste dort mit einem Schlag interessanter geworden waren als die im eigenen Land. Was sicherlich auch daran liegt, dass die Erfolgsaussichten der russischen Opposition derzeit deutlich geringer sind als die der belarussischen.

Am 1. September legten Unterstützer der Opposition weite Teile des öffentlichen Lebens in Minsk lahm. Offiziell hatte diese Bar Ruhetag, aber das rosa Herz rechts unten weist auf Streikteilnahme hin.

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Rambo und seine Prachtkerle

Am 23. August, dem Tag, an dem Lawrow seinen Auftritt bei dem genannten Jugendforum hatte, ließ sich Lukaschenko filmen, wie er mit einer Kalaschnikow bewaffnet zusammen mit seinem Sohn Nikolai aus einem Kampfhubschrauber stieg - eine Szene, die wie ein billiges Remake des Actionfilms „Rambo“ wirkte. Als er anschließend die Vertreter der Sicherheitsorgane als „Prachtkerle“ bezeichnete und sich dafür von ihnen beklatschen ließ wurde einmal mehr deutlich, wie sehr Lukaschenko inzwischen die Bestätigung der wenigen Verbliebenen braucht, die ihm noch aus Überzeugung die Treue halten. Diese Episode zählt zweifellos zu den Ausnahmen von der jüngsten Professionalisierung seiner PR-Strategie.

Die russische Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta kommentierte tags darauf, eine Kalaschnikow wie Lukaschenko sie bei sich hatte stehe eher für Landesverteidigung nach außen, nicht für den Kampf gegen innere Bedrohungen. Dabei mag es sich um eine Überinterpretation von Lukaschenkos Geste handeln, aber durchaus mit einer gewissen Aussagekraft darüber, wie genau nominell unabhängige russische Medien die Lage in Belarus und Lukaschenkos Verhalten beobachten und bewerten.

Grundsätzlich ist dieser Tage auffällig, wie unterschiedlich in Russland staatliche und nominell unabhängige (gleichwohl indirekter staatlicher Kontrolle unterliegende) Medien die Lage in Belarus bewerten. Normalerweise berichten beide in ähnlicher Weise über Ereignisse im Ausland und ziehen ähnliche Schlussfolgerungen. In den Tagen nach der Präsidentschaftswahl in Belarus hingegen hielten sich viele Redaktionen mit Kommentaren zurück, und wenn welche veröffentlicht wurden, offenbarten diese eine erfrischende Vielfalt an thematischen Schwerpunkten und Meinungen.

Мы разам - Wir stehen zusammen. Oder freier übersetzt - Gemeinsam sind wir stark unter einem Bild auf den sich zwei Hände schütteln.

Мы разам - Wir stehen zusammen. Oder freier übersetzt - Gemeinsam sind wir stark.

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Keine Lösung ohne Russland

Inzwischen zeigen die Staatsmedien eine deutliche Tendenz pro Lukaschenko, während mehrere nominell unabhängige Medien mindestens eine neutrale, in einigen Fällen sogar eine mit der belarussischen Opposition sympathisierende Position einnehmen. Es war jedenfalls schon lange nicht mehr so interessant wie in den Wochen nach der Präsidentschaftswahl, die Berichterstattung und die Kommentare unterschiedlicher russischer Medien zu verfolgen - man kann hier durchaus von einer gewissen Pluralität der Meinungen sprechen.

Welche Schlussfolgerungen kann nun die deutsche und europäische Politik aus den Ereignissen der vergangenen Wochen ziehen? In der derzeitigen Lage ist es offensichtlich, dass die EU - wie die gesamte westliche Welt - nur dann zu einer Lösung in Belarus beitragen kann, wenn sie Russland dabei mit einbezieht; allein schon wegen der russischen Sensibilität, wenn es um seine direkte Nachbarschaft geht. Lukaschenko selbst telefoniert zwar lieber mit Putin als mit führenden Entscheidungsträgern der EU und derer Mitgliedstaaten, denen er nach wie vor die kalte Schulter zeigt. Aber der Besuch von US-Vizeaußenminister Biegun in Moskau zeigt, wie wichtig es für den Westen ist, sich zumindest mit Russland auf einen Minimalkonsens zu verständigen - auch wenn dieser nur in der Übereinstimmung darüber besteht, dass ein Dialog zwischen Behörden und Opposition in Belarus wünschenswert wäre.

Ein weiteres wichtiges Signal sind die Sanktionen gegen Unterstützer Lukaschenkos, auf die sich die Außenminister der EU-Staaten geeinigt haben. Nachdem in den ersten Tagen nach der Präsidentschaftswahl fast 7.000 Protestteilnehmer festgenommen worden waren und sich die Sicherheitsbehörden in den darauffolgenden Wochen stark zurückgehalten hatten, kam es zuletzt wieder vermehrt zu Festnahmen. Dabei ist Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten genauso wenig akzeptabel wie die Behinderung von Journalisten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit - unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Personenbezogene Sanktionen können ein Zeichen gegen derartige Willkür setzen, wenngleich ihre Wirkung beschränkt bleiben wird.

Um in der Sprache des Sports zu sprechen: Es steht eins zu eins zwischen der belarussischen Opposition und Lukaschenko. In den Tagen unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl war die Opposition in Führung gegangen, doch Lukaschenko hat es mit altbekannten Mitteln geschafft, der Oppositionsbewegung einen Teil ihres Schwungs zu nehmen und den Ausgleich zu erzielen. Die Zeit läuft momentan gegen die Opposition, was nicht zuletzt daran liegt, dass Moskau derzeit noch bevorzugt, erst einmal weiter auf Lukaschenko zu setzen.

Das wird auch noch einige Zeit so bleiben, nämlich bis der Kreml sich entschieden hat, welchen der potenziellen Nachfolger Lukaschenkos Moskau unterstützen wird. Russische Quellen halten sich derzeit noch bedeckt mit Prognosen, wer dies sein könnte, doch aus oppositionellen Kreisen in Minsk hört man immer wieder den Namen Wiktor Babariko, ehemals langjähriger Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank und potenzieller Gegenkandidat von Lukaschenko bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl. Er war wenige Wochen vor der Wahl festgenommen und deshalb nicht als Kandidat zugelassen worden.

Babariko gilt als russlandnah und als Integrationsfigur, hinter der sich große Teile der Opposition versammeln könnten. Auch für die von Lukaschenko ins Spiel gebrachte Verfassungsreform als Grundlage für Dialog wäre Babariko wohl offen, was ihm grundsätzlich die Möglichkeit einer Verhandlungslösung für die Frage eröffnet, wer Lukaschenko nachfolgen wird. Ob mit Babariko oder einem anderen Russland gegenüber grundsätzlich wohlgesonnenen Politiker: Es bestehen wenig Zweifel daran, dass die belarussische Opposition das Spiel gegen die jetzige Macht früher oder später gewinnen wird - mit Billigung Moskaus.

Autor: Jan Dresel, HSS, Moskau

Leiter Institut für Europäischen und Transatlantischen Dialog

Dr. Wolf Krug
Jan Dresel, Regionalprojekt Frieden und Demokratie in Osteuropa
Jan Dresel
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