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Interview mit Dr. Theo Waigel
„Kohl hat als Kanzler der europäischen Idee wieder neue Kraft gegeben“

Der langjährige Weggefährte Helmut Kohls, Dr. Theo Waigel, im Interview mit der HSS.

Dr. Theo Waigel

Herr Dr. Waigel, Ihr langjähriger politischer Weggefährte Helmut Kohl wird als Kanzler der Einheit und großer Europäer in die Geschichte eingehen. Können Sie uns etwas über den Menschen Helmut Kohl erzählen?

Ich habe Helmut Kohl erstmals Mitte der 70er Jahre auf einem Deutschlandtag der Jungen Union erlebt, später dann, als ich Landesvorsitzender der JU war, auch bei Sitzungen, die gemeinsam zwischen CSU und CDU stattgefunden haben. Danach als Landesgruppenchef der CSU und dann in seinem Kabinett. Ich habe ihn als Menschen kennen gelernt, dem man vertrauen konnte, auf dessen Zusagen man setzen konnte, der entschlossen war und von einer grundlegenden religiösen Überzeugung ausging, der einen modernen, offenen Katholizismus praktizierte und der schon sehr früh, aufgrund seiner Zeit in Rheinland-Pfalz, begriffen hatte, dass Konfessionsschulen nicht mehr in eine moderne Zeit passen. Etwas, das wir auch in Bayern zum gleichen Zeitpunkt geändert haben. Ja und dann war er ein Politiker, der wusste, was er will, der sich früh entschieden hatte, das Bundeskanzleramt anzustreben, obwohl es Viele gab, die sich ihm überlegen dünkten. Aber sie haben ihn alle unterschätzt. Auch in seiner Funktion als Bundeskanzler blieb er immer ein origineller Zeitgenosse, mit dem man über alles in der Welt, von der Philosophie über die Theologie und die Geschichte, bis hin zur Heimatkunde diskutieren konnte. Zu jedem, sei es der Handwerker, der Bauer oder der Intellektuelle fand er Zugang. Auch Literaten versammelte er um sich. Das hatte übrigens der CSU-Bundesminister Oscar Schneider immer wieder arrangiert. Er versammelte da Intellektuelle, Dichter und Schriftsteller und ohne daraus ein großes Aufheben zu machen. Helmut Kohl konnte aber auch mit jedem einfachen Menschen, den er zum Beispiel bei einer Wanderung traf oder auf den er stieß, unkompliziert umgehen. Und dieses unkomplizierte Zugehen auf Andere hat er sowohl im privaten wie auch im politischen Bereich beherrscht. Das hat ihm diese Vertrauensbasis gegeben, die ihn dann auch in ganz schwierigen Situationen gehalten und getragen hat, was man auch daran erkennt, wie sehr ihm zum Beispiel George Bush auf der einen und Michail Gorbatschow auf der anderen Seite vertraut haben.

Woher kamen sein politischer Antrieb und seine Vision für ein geeintes Europa?

Ich glaube, dieser Antrieb kam aus der Biographie seines Lebens. Er hatte als Bub ja noch den zweiten Weltkrieg erlebt und wurde sogar noch eingezogen. Zu sehen, welches schreckliche Verhängnis über Europa gekommen war und dann das persönliche Schicksal des älteren Bruders, der noch gefallen war, beim Abschied sagte dieser noch ‚Gib auf unsere Mutter Acht‘, das sind Dinge, die man natürlich nie vergisst. Und dann hat ihn natürlich auch geprägt, als er endlich entlassen war, der Weg als 15-Jähriger zurück in die Heimat. Er war ja schließlich durch ganz Bayern zu Fuß gegangen, hatte in Augsburg unliebsame Begegnungen mit der Besatzungsmacht gehabt und hatte sich in Ichenhausen, meiner näheren Heimat, ein paar Tage versteckt. Dann begann unter unsäglichen Situationen der berufliche Weg, Abitur und dann Studium der Geschichte. Dieses hat ihn besonders befähigt. Man hat gemerkt, dass ein gelernter Historiker mit einem spricht. Er hat sich, wo immer er war, oder mit wem er sich umgab, oder mit wem er zu reden hatte über dessen Geschichte, über die Geschichte seiner Heimat, über die Hintergründe erkundigt, ausgelassen und damit debattiert. Und das gab ihm so ein breites Fundament, mit den Menschen gut kommunizieren zu können. Und aus der Nähe von Rheinland-Pfalz auch zu Frankreich, in einer Mittelregion Europas, erwuchs ganz sicher seine europäische Idee und die Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was Adenauer und andere für Europa auf den Weg brachten. Er war ein überzeugter Europäer von Anfang an und bis zur letzten Sekunde.

Wo sehen Sie Helmut Kohls größten Beitrag zum europäischen Projekt?

Er hat, als er Kanzler wurde, die „Eurosklerose“ überwunden. Das hieß, es lief in Sachen Europa nichts mehr! So war das 1979, 1980, 1981. Kohl hat als Kanzler Europa wieder einen Antrieb gegeben. Er ist damals auf den völlig anders strukturierten und menschlich anders gestrickten Francois Mitterand zugegangen und hat das später mit Jacques Chirac fortgesetzt. Er ist auch auf alle weiteren Nachbarn zugegangen und hat insbesondere auch die kleinen Nachbarn wie Österreich oder Holland respektiert, sie immer ernst genommen in ihrer Geschichte und in ihrer Darstellung. So ist es ihm gelungen, der europäischen Idee eine neue Kraft zu geben. Es war auch nicht selbstverständlich, dass 1988 ausgerechnet auf dem Gipfel in Hannover ein neuer Anlauf zur gemeinsamen europäischen Währung genommen wurde, lange bevor sich die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete. Manchmal meint man, es gäbe hier eine Verknüpfung oder eine Bedingung, das ist aber falsch. Helmut Kohl hat nur eines, unnachahmlich, wie ich finde, vorangebracht: Er hat den europäischen Prozess nicht angehalten oder gestoppt oder unterbrochen, als die Chance zur deutschen Einigung kam. Er hat den Partnern klar gemacht: Wir bleiben auf europäischem Kurs. Deutschland, auch das größere Deutschland, das wiedervereinigte Deutschland, bleibt seinen Freunden treu, der Europäische Union genauso wie der NATO. Ganz Deutschland ist in der NATO, ohne unterschiedliche Sicherheitszonen in Deutschland und in Europa. Das war ein ganz wichtiger Punkt. Auch das konsequente Weitergehen bei der Währungsunion mit den Stabilitätskriterien, wo er mich übrigens immer unterstützt hat, war wichtig. Helmut Kohl wäre zu keinem Kompromiss bereit gewesen, der zu einem Abweichen von diesen Kriterien geführt hätte. Davon sind erst Schröder und Eichel abgewichen, als Griechenland in den EURO aufgenommen und der Stabilitätspakt verändert wurde. Diesen wichtigen Schritt einer Währungsunion für Europa zu vollziehen, war auch der Grund dafür, warum Helmut Kohl bis 1998 Kanzler blieb. Denn wenn er gesagt hätte, ich höre im Herbst 1989 auf, dann wäre er im Mai 1989, als die die wichtigsten Entscheidungen über den Ort der EZB, über die Mitgliederzahl des EURO und seinen Beginn anstanden, eine „Lame Duck“ gewesen. Man hätte die Interessen Deutschlands nicht voll vertreten können. Also blieb er sich treu, auch auf die Gefahr hin, dass uns zu diesem Zeitpunkt das europäische Projekt bei den Wahlen im Herbst 1989 nicht mehr helfen, sondern sogar eher schaden könnte. Es war ihm wichtiger, dieses Projekt voran und in trockene Tücher zu bringen als seine persönliche Karriere. Ohne die Verortung in Europa, das ist meine feste Überzeugung, wäre Gorbatschow nicht bereit gewesen, der Wiedervereinigung zuzustimmen. Alle wollten ein eingebundenes Deutschland. Viele, auch unsere westlichen Freunde, auch Mitterand, hatten die Sorge vor einem vagabundierenden Deutschland, das eine „Unruherolle“ spielen würde. Und Kohl hat, wie eine Schweizer Zeitung es richtig ausdrückte, den Europäern die Angst vor Deutschland genommen. Diese Tatsache wird auch in der Zukunft eine Rolle spielen. Auch von der aktuellen Regierung unter Angela Merkel wird das weiter verfolgt: diese Rolle Deutschlands, andere nicht zu dominieren, aber auch der eigenen Verantwortung nicht auszuweichen, eine Verantwortung die größer ist als je zuvor in den letzten 150 Jahren.

Was muss aus Helmut Kohls Politik unbedingt auch in der Zukunft überdauern?

Nichts ist auf die Dauer gesichert. Für alles muss gekämpft werden. Kohls Vermächtnis ist, für dieses Europa zu kämpfen, für dieses Europa auf die Straße zu gehen, es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Und den jungen Leuten zu sagen: Seht Europa nicht nur als selbstverständlich, glaubt nicht, dass freie Grenzen in Europa immer selbstverständlich sind. Wir müssen auch das Unsrige dazu beitragen. Wir müssen allen falschen Anfechtungen, die es auch heute wieder in Ansätzen gibt, so wie zwischen 1900 und 1914 und in der Weimarer Republik und dann 1932/33, entgegentreten. Diesen falschen Nationalismus müssen wir im Keim ersticken und ihn durch einen geläuterten Nationalismus ersetzen, der eingebettet ist in ein gemeinsames Europa.

Was hat den Bundeskanzler Kohl und Sie besonders verbunden?

Es gibt natürlich gemeinsame Erfahrungen. Er war zwar älter, aber wir hatten ähnliche Schicksale – auch mein älterer Bruder ist im Krieg gefallen. Auch ich habe die Erfahrung, dass mein Vater im ersten und im zweiten Weltkrieg gewesen ist. Und dann die grundsätzliche Überzeugung der Union als einer modernen Volkspartei, wo das liberale Element genauso wichtig ist wie das konservative. Auch die soziale Marktwirtschaft, darauf hat er immer wieder hingewiesen, muss das Adjektiv sozial zum Ausdruck bringen, um damit keinem falschen Neoliberalismus, sondern einem vernünftigen  Ordoliberalismus nachzugehen. Zum Schluss steht das C als archimedischer Punkt in unserem persönlichen und politischen Leben. Da muss ich sagen, lagen wir immer auf der gleichen Linie.

Gibt es eine besondere Begebenheit, an die Sie sich gerne erinnern?

Ein Erlebnis kommt mir besonders in den Sinn: Er kam 1994 gemeinsam mit seiner Frau Hannelore zur Hochzeit von Irene und mir und hat da, wo er saß, die Tischordnung selbst umgekrempelt. Und zwar ohne uns zu fragen. Er hat den Münchner Religionsphilosophen Eugen Biser neben sich gesetzt und stundenlang mit ihm geredet. Daraus erwuchs eine Freundschaft, und Eugen Biser und Helmut Kohl haben fast jeden Sonntag miteinander telefoniert. Übrigens, auch mich hat Eugen Biser fast jeden Sonntag angerufen. Und ich glaube, dass diese Gespräche mit Biser auch für Helmut Kohl wichtig waren, denn er konnte regemäßig mit einem Mann sprechen, der einer offenen Theologie verschrieben war. Biser war später auch bei jeder Veranstaltung Helmut Kohls dabei – er wiederum war bei dessen 90ten Geburtstag der Festredner in der katholischen Akademie. Und so haben Irene und ich dazu beigetragen, dass eine Freundschaft zwischen ihm und Biser erwachsen ist, die für Helmut Kohl ganz sicher auch besonders wertvoll war. Helmut Kohl ist ein wirklich verdienter Preisträger des Franz Josef Strauß–Preises der HSS und spielt damit auch für die HSS eine wichtige Rolle.