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General Naumann über Deutschlands Sicherheitskonzept
Fahren auf Sicht

Deutschland wird oft vorgeworfen, beim Thema Sicherheit keine klare, eigene Strategie zu haben. Gleichzeitig ist die Lage komplexer denn je, so dass es fast unmöglich scheint, eine vorausschauende Strategie zu entwickeln. Dafür braucht es jaktive und zielgerichtete Politik. Wie ist es tatsächlich um Deutschlands Sicherheit bestellt? Kann Sicherheitspolitik „strategischer“ gedacht werden? Im Interview malt General a.D. Klaus Naumann, der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses ein dunkles Bild.

Die Lage der EU hat sich verschlechtert. Zerfallstendenzen werden sichtbar. Streit gibt es um den Euro, die Schuldenfrage, unterschiedliche Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das belastet die Union.

Die Lage der EU hat sich verschlechtert. Zerfallstendenzen werden sichtbar. Streit gibt es um den Euro, die Schuldenfrage, unterschiedliche Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das belastet die Union.

SplitShire; CC0; Pixabay

Aus Expertenkreisen und Medien wird in regelmäßigen Abständen die Forderung nach mehr strategischem Denken in der deutschen Sicherheitspolitik laut. Für langfristige Strategie sind ebenso langfristige Ziele Voraussetzung, die mit definierten Leitlinien und ausgestattet mit den nötigen Ressourcen erreicht werden sollen.  Aber gemessen an der Komplexität und den jüngsten Umbrüchen in der internationalen Politik – sei es ein revisionistisch auftretendes Russland im Osten, Flüchtlingsströme, fragile Staatlichkeit, terroristische Bedrohungen oder die Unberechenbarkeit von US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus – scheint es nahezu unmöglich, eine vorausschauende Strategie für die deutsche Sicherheitspolitik zu entwickeln. Krise um Krise zwingt die Politik zu Reaktionen. So rückt die langfristige Perspektive oftmals in den Hintergrund.

„Strategie neu denken“ forderte daher Dr. h.c. Klaus Naumann, General a.D. in seinem Vortrag im Rahmen einer Veranstaltung der Hanns-Seidel-Stiftung, in dem er klar aktuelle und zukünftige Herausforderungen für Deutschland benannte und klare Handlungsempfehlungen gab, um Deutschlands strategische Defizite zu beheben. In einem Interview hat sich Dr. h.c. Klaus Naumann bereit erklärt, für Sie die gegenwärtige sicherheitspolitische Lage und mögliche Konsequenzen für Deutschland zu analysieren.

Dr.h.c. Klaus Naumann                                                                                                                   München, 12.09.2018
General a.D.

„Strategische Analyse: Zur sicherheitspolitischen Lage der Bundesrepublik Deutschland“

Vortrag vor der Hanns-Seidel Stiftung in München

Es gilt das gesprochene Wort

Eine strategische Analyse beginnt normalerweise mit der Beurteilung der Gefahren, entwickelt dann Zielvorstellungen ihnen zu begegnen, stellt fest welche Mittel dazu erforderlich sind, bewertet nach Beurteilung des politischen Willens wie und wann die Ziele zu erreichen sind und welche Risiken wie lange bestehen bleiben. So habe ich das einmal gelernt und ein Leben lang auch durchgehalten. Doch in einer Gesellschaft wie unserer muss man mit deren Befindlichkeit beginnen, obwohl ich anschließend die Gefahren in den Mittelpunkt stellen will, weil die Gefahren viel zu lange einfach verdrängt wurden und strategisches Denken kaum stattfindet und, wenn überhaupt, am nächsten Wahltermin endet. Politisches Bemühen den Bürgern reinen Wein einzuschenken ist kaum zu erkennen. Deshalb glaubt noch immer eine nun langsam abnehmende Mehrheit Deutschland lebe in Sicherheit und könne das auch weiter. Auch die erkennt aber zunehmend, auch durch die Berichte über den vielfach beklagenswerten, aber in den letzten zwei Jahrzehnten eben mehrheitlich sorglos hingenommenen, wenn überhaupt wahrgenommenen Zustand der Bundeswehr, dass es eine trügerische Sicherheit ist. Man sieht Deutschlands Abhängigkeit. Man merkt, dass man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass Andere für Sicherheit sorgen werden und man selbst, natürlich im Besitz einer höheren Moral, alles mit Gewalt, sogar das mit legitimer Gegengewalt verbundene Handeln verurteilen und Verhandlungslösungen selbst dann fordert kann, wenn man weiß, dass dafür keine Chance besteht. Diese Traumtänzerei ist in Europa einzigartig.

Die Wirklichkeit ist leider, dass wir in einer Welt ohne Sicherheit leben, in einer Welt, in der viele Sicherheitsorgane, nicht nur die Bundeswehr, durch überwiegend, aber nicht allein politisches Verschulden nur eingeschränkt funktionieren, in der jeder Tag unerwartete neue Gefahren bringen kann und in der Sicherheit weit mehr verlangt als Militär oder Polizei. Besserung ist nicht in Sicht eher das Gegenteil. Sicherheit vor äußerer Gefahr aber braucht jede Gesellschaft. Nur dann kann sie ihre inneren Probleme lösen, und das sind ja auch bei uns nicht wenige, denn auch unsere mittelfristig keineswegs rosige wirtschaftlich-industrielle Zukunft lässt ein Weiter so ebenso wenig zu wie der von immer weniger Jungen kaum noch bezahlbare Sozialstaat und unsere ins Wanken geratene Parteienlandschaft. Aus Verunsicherung kann aber sogar Gefahr für unsere Demokratie entstehen, denn unserer Gesellschaft droht Fragmentierung, zudem fehlt das einigende Wir-Gefühl, das entweder aus Patriotismus oder aus einer Einigkeit schaffenden Vision entsteht.

Die Lage

Lassen Sie mich nun die Großwetterlage schildern, dann die Gefahren von heute und morgen skizzieren, kurz den Zustand unserer Sicherheitsorgane beleuchten und mit dem Handlungsbedarf schließen.

Europa war bis zum Frühjahr 2014 Teil einer Welt, die auf der Hoffnung beruhte, Krieg sei in Europa gebannt, die dachte, die vielversprechende Partnerschaft mit Russland könne weiter gefestigt werden, die trotz der Euro-Krise hoffte, Europa könne noch enger zusammenwachsen und die davon ausging, dass Europa sich auch künftig auf die Sicherheitsgarantie der USA verlassen könne.

Den Anfang vom Ende aller Illusionen machte 2014 Putins rechtswidrige Annexion der Krim. Russland zeigte der Welt, dass es nicht Partner sein will, dass es internationale, von Russland garantierte Grenzen nicht achtet und dass es bereit ist, zur Durchsetzung russischer Interessen militärische Gewalt einzusetzen. Noch schlimmer aber kam es als Europa ab Januar 2017 erkennen musste, dass es sich auf die Beistandsgarantie der USA unter einem Präsidenten Trump nicht mehr vorbehaltlos verlassen kann. Endlich erkennt man: Europa muss sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Doch Europa, durch den Euro in Nord und Süd gespalten, sieht noch immer nach Innen, ist mit sich selbst beschäftigt, versucht aufkeimenden Nationalismus einzudämmen und zu verhindern, dass dem BREXIT weiterer Zerfall folgt, übersieht dabei aber nahezu völlig, dass der BREXIT eine dramatische Verschlechterung der sicherheitspolitischen Lage Europas bedeuten kann. Die Außenpolitik der EU ist Stückwerk, Machtmittel sie umzusetzen fehlen sowieso und Konzepte der EU für Afrika wie vor allem für Asien, einem für die EU unverzichtbaren Raum, fehlen ganz und gar.

Schlimmer aber noch scheint mir, dass Chinas Herausforderung, eine neue globale Weltordnung anzubieten, unbeantwortet bleibt. Die Europäer aber machen die Augen zu und freuen sich über chinesische Investitionen oder sie schweigen und ducken sich weg. Von China Menschenrechte einzufordern war immer aussichtslos, doch jetzt bietet Xi-Jingpin eine Alternative. Sein Modell einer globalen Ordnung, beruht auf den nie vergessenen Gedanken des Konfuzius: Nicht die Rechte des Einzelnen, sondern dessen Pflichten gegenüber dem Staat stehen im Mittelpunkt. Nicht das Individuum, dessen Freiheit durch die Macht des Rechts geschützt wird, ist Kern seiner Ordnung, sondern der Staat, der Wohlstand als Preis der Pflichterfüllung verspricht. Die Freiheit des Einzelnen hat in dieser Ordnung keinen Platz, und das ist die Schwäche von Xis Modell, denn Kreativität entfaltet sich nur in Freiheit, nur in Freiheit gedeiht Innovation. Freiheit aber gibt es nur, wo Freie die Verantwortung übernehmen sie zu schützen, doch nun wird diese unsere Idee des Westens durch einen amerikanischen Präsidenten geschwächt, der als erklärter Nationalist nur auf bilaterale Beziehungen setzt. Er will bilateral die unbestrittenen und einzigartigen Vorteile der USA voll zur Geltung bringen: Die Fähigkeit, in allen Kategorien der Macht global handlungsfähig zu sein und von einer nahezu unverwundbaren Insel von kontinentaler Größe Macht ausüben und Interessen durchsetzen zu können. Er verkennt, dass es die von den USA aufgebaute, nach vereinbarten Regeln handelnde Weltordnung war, die den USA die bis heute bestehende führende Rolle in der Welt gebracht hat, die sie bis heute schützt und die ihr mit dem Dollar ihre stärkste Waffe beschert hat. Er verkennt auch, dass es einen geo-strategischen Imperativ gibt, den kein amerikanischer Präsident außer Kraft setzen kann: Eine globale Seemacht wie die USA muss in der Lage sein, ihre Gegenküsten zu kontrollieren. Im Falle der USA sind dies Europa und Asien. Dort wirken die NATO und die bilateralen Bündnisse der USA mit Australien, Japan und Süd-Korea als vorgeschobene Schutzschilde. Wer sie aufgibt oder schwächt wird langfristig den USA schaden und am Ende deren einzigartige Weltmachtrolle verspielen. In meinen Augen hat der unberechenbare Präsident Trump die USA bereits geschwächt, denn den Gipfel von Helsinki kann man durchaus als Kniefall des amerikanischen Präsidenten vor dem Autokraten Putin sehen. Aber noch unterstützen ihn seine Wähler, denn die amerikanische Wirtschaft brummt und er tut, was er versprach. Doch bei den Verbündeten wurde schon jetzt Vertrauen zerstört. Vertrauen aber ist nun einmal der Leim, der Bündnisse zusammen hält, obwohl es auch für Europa eine geostrategische Unabänderlichkeit gibt und Europa in seiner Schwäche zwingend die USA braucht. Sicherheit gibt es für Europa nur mit den USA an seiner Seite, denn strategisch betrachtet, ist Europa nur zu verteidigen, wenn es den Nordatlantik als Mare Nostrum sehen kann.

Das sollte jeder bedenken, der mehr Eigenständigkeit fordert und missverständlich von der Autonomie Europas spricht. Autonomie darf niemals Europa allein heißen. Doch Europa muss nun allerdings den Weckruf hören und es muss handeln, richtige Schritte machen statt wie bislang zu tippeln. Dieses Handeln muss im Kernland Europas, in Deutschland, beginnen und es muss dem Versuch gelten, gemeinsam mit Frankreich Großbritannien trotz BREXIT in ein Europa der Verteidigung einzubinden. Heute aber kann man somit nur feststellen: Europa ist uneins, der Schutz durch die USA wackelt, auch ohne Einwirkung von Gegnern hat sich die Lage Europas seit April somit verschlechtert, aber die bisherigen Gefahren bestehen fort. Da ist weiterhin der Krisenbogen im Osten, weil Russland eine vor gelagerte Einflusszone anstrebt und da ist der Krisenbogen von Marokko bis Pakistan. Beide schneiden sich im Mittleren Osten, der Schlüsselzone der nächsten Jahre oder Jahrzehnte, und in der liegt Israel, dessen Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärt wurde.

Die Gefahren der Gegenwart

Wie sieht die Lage bei einem näheren Blick aus?

Ich beginne mit der guten Nachricht: Ich denke nicht, dass Kriegsgefahr in Europa über den in der Ukraine Tag für Tag geführten Krieg hinaus besteht, wenn ich beiseitelasse, dass die eingefrorenen Konflikte im russischen Vorfeld jederzeit entflammt werden können und auch künftig, nichtstaatliche Akteure wie beispielsweise Terroristen Kriegshandlungen auf den Gebieten unserer Staaten verüben können und werden.
Ich denke also nicht, dass Putin weitere Abenteuer à la Krim wagen wird. Er könnte militärisch vermutlich Anfangserfolge erzielen, aber niemals gewinnen, solange die NATO geschlossen zur Verteidigung des NATO Gebietes eingreift. Entscheidender ist vielleicht, dass Putin wirtschaftlich Russland schon jetzt durch seine verstärkte Rüstung und die Tag für Tag Millionen kostenden Konflikte Krim, Ukraine und Syrien überfordert. Deshalb gilt weiterhin: Eine mit einer zur Verteidigung Europas entschlossenen USA, also eine intakte NATO garantiert unverändert: Keine Kriegsgefahr in Europa. Diese Sicherheit vor Russland ist die Voraussetzung für Kooperation mit Russland.

Russland wird aber weiterhin alles tun um die EU zu spalten und die NATO zu schwächen. Der durch Trump verstärkte und durch Russia Today und seine deutschen Handlanger hemmungslos geschürte Anti-Amerikanismus hilft dabei. Russland will sich so und durch auch bei uns anhaltende Unterwanderung vor der Ansteckungsgefahr durch freiheitliches Denken schützen, denn die jungen Russen sehen die Stagnation in Russland. Sie sehen, dass nichts geschieht um das Land zu modernisieren, dass Korruption um sich greift, Rechtlosigkeit freien Handel behindert und, vielleicht am Schlimmsten, sie sehen eine ohnehin schon gefährliche demographische Entwicklung in Russland, die durch die jährliche Abwanderung von bis zu 200.000 gut ausgebildeten jungen Russen und die jährliche Erkrankung von bis zu 160.000 Russen an AIDS außer Kontrolle geraten könnte. Russland wird immer schwächer, ist somit keine echte Gefahr, bleibt jedoch ein Risiko für Europa, nicht aber für die USA. Dieses Risiko ist zu mindern. Das heißt, Wege zu finden, Russland durch eine intelligente Verknüpfung von abschreckender Verteidigungsfähigkeit und Dialog zu erneuter Kooperation zu führen, vorausgesetzt Russland wäre zu Gegenleistungen bereit, also mindestens zu Gewaltverzicht und zur Achtung bestehender Grenzen zurückzukehren. Dann könnte man über Erleichterung bei Sanktionen nachdenken und dann sollte man erneut versuchen, im beiderseitigen Interesse eine Zone der Stabilität von Vancouver, nicht wie Russland meint von Lissabon, bis Wladiwostok zu schaffen.

Weitere Risiken für Deutschland wie Europa lauern im Mittleren Osten. Die Staatenwelt dort ist im Umbruch und Aufruhr. Ich weiß nicht wie die politische Landkarte der Region zwischen Bosporus und der Strasse von Hormuz in zehn oder gar zwanzig Jahren aussehen wird, ich nehme aber an, sie wird sich ändern. Es dürfte dort Bürger-, vielleicht auch Stellvertreterkriege geben, möglicherweise auch den direkten Krieg zwischen Iran und den sunnitischen Staaten am Golf. Staaten wie Syrien, Libanon und Irak könnten zerfallen, neue wie ein Kurdenstaat könnten entstehen, andere wie Jordanien und sogar Ägypten könnten unter der Last der Demographie zerbrechen. Möglicherweise wird es zusätzlich zu Israel weitere atomar bewaffnete Staaten geben, denn das zwar eingrenzende, aber doch lückenhafte Atomabkommen mit dem Iran verhindert im günstigsten Falle nur, dass der Iran vor 2025 Atommacht wird. Greift er dann nach der Bombe, dann dürften Saudi Arabien, vielleicht auch die Türkei und später Ägypten folgen. Die Gefahr eines Nuklearkrieges vor den Toren Europas würde damit zunehmen. Schon deshalb muss der Nahe Osten zum Schwerpunkt europäischer Sicherheitsvorsorge werden. Aber Gewicht hat derzeit dort nur Russland, die USA wenig und Europa leider kaum. Europa muss dort aber Kriege verhindern und seine Außengrenzen schützen. Es darf nun allerdings nicht den Fehler machen, sich ohne Gegenleistung von Russland zum Zahlmeister für den Wiederaufbau des nicht zuletzt von Russland zerstörten Syrien machen zu lassen. Vermutlich wird Europa im Mittleren Osten auch militärisch präsent sein müssen, ähnlich wie heute bereits im Irak. Dazu braucht Europa braucht aber Partner aus der Region. Israel als einzige Demokratie der Region ist sicher einer. Aber auch die Türkei, in der die gegenwärtige Autokratie hoffentlich nur ein Intermezzo ist, bleibt ein strategischer Partner, der genau weiß, dass er zur Partnerschaft mit Europa keine wirkliche Alternative hat.

Krieg droht von dort wohl nicht, sicher aber weiterhin Ressourcen verschlingende Instabilität und, auch ohne Krieg, weitere Migration, weil die schnell wachsende Jugend der Region daheim keine Zukunft hat.

Allerdings dürfte der Bevölkerungsdruck weit geringer sein als der aus Afrika zu erwartende. Die Bevölkerung Afrikas wächst jährlich um 30 Millionen und könnte sich bis 2050 auf 2,5 Milliarden verdoppeln. Statt vier müssten jährlich 20 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden um die jungen Afrikaner in ihren Heimatländern zu halten. Das Wirtschaftswachstum Afrikas, 2017 vermutlich 3,5 %, wird somit buchstäblich von der nachwachsenden Jugend aufgefressen. Stabilisierende Besserung in den Staaten Afrikas wäre wohl nur zu erreichen, wenn das Wirtschaftswachstum etwas mehr als 10% real betrüge und Misswirtschaft, unfähige Regierungen und Korruption durch good governance ersetzt würde. Zusätzlich wäre Geburtenkontrolle nötig, sonst wird der Migrationsdruck zunehmen. Die gegenwärtigen Tragödien im Mittelmeer sind nur das Vorspiel einer gewaltigen Flüchtlingswelle, Schätzungen für das nächste Jahrzehnt sprechen von mehr als 100 Miliionen Menschen. Militärische Lösungen gibt es nicht, aber ganz ohne Militär wir es auch nicht gehen, denn Voraussetzung aller denkbaren Lösungen ist Sicherheit. Die beginnt mit Rechtssicherheit, gefolgt vom Schutz von Anlagen und Handelswegen. Europa muss hier handeln, Afrika ist sein Vorfeld. Die vier Milliarden deutscher Investitionen, weniger als die Schweiz, sind nichts im Vergleich zu den gerade erneut zugesagten 60 Milliarden Chinas. Es muss bei Bildung geholfen werden, das ist immer noch der beste Weg Bevölkerungswachstum zu bremsen, und man wird den Markt Europas für afrikanische Produkte öffnen müssen, auch wenn das die EU-Landwirtschaftslobby an den Rand des Wahnsinns treiben wird. Ich denke, die Kanzlerin hat begriffen, dass dies die Schicksalsfrage Europas sein könnte. Afrikas Teufelskreis aus Armut und Bevölkerungswachstum kann für uns zur Gefahr werden.

Das ist die unsichere Welt vor Europas Türen. Doch Europa darf angesichts des amerikanischen Rückzugs Asien nicht aus dem Auge verlieren und dieses Zentrum des Welthandels China überlassen. Europa muss die Signale aus Australien und den ASEAN Staaten aufnehmen und erwidern, dann könnte gemeinsam mit den USA doch noch eine kooperative Lösung in Asien gefunden werden. Das Problem in Asien ist nicht Nord-Korea. Dort kann man Lösungen finden, denn die Machthaber dort wollen keinen Krieg. Sie wissen, dass er mit ihrer Vernichtung enden würde. Allerdings sollte man keine Illusionen haben: Nordkorea wird seine Atomwaffen nicht aufgeben, sie sind die Lebensversicherung des Regimes. Vermutlich kann man aber Rüstungsbegrenzung und vor allem den Verzicht auf Export der Atomwaffen erreichen. Das wahre Problem Europas in Asien ist dem expansiven Anspruch Chinas entgegen zu treten nicht nur globale Macht zu sein, sondern auch eine neue globale Weltordnung anzubieten. Die Infrastruktur dafür ist mit dem Konzept der neuen Seidenstrasse bereits in der Umsetzung, vor allem im südchinesischen Meer und in Djibouti, aber auch schon in Piräus, Tirana und dem Endpunkt Duisburg. Ein gewaltiges Investitionsprogramm mit 1000 Milliarden, gewiss eine große Chance, aber auch eine gewaltige Gefahr. Dahinter steht die Idee, einen Wirtschaftsraum vom Gelben Meer zum Atlantik zu schaffen, also, ohne Afrika, 60% des Welthandels zu kontrollieren. Zudem schafft China in Afrika neue Abhängigkeiten, die es mit Härte nutzen wird. Doch das ist nur die Infrastruktur, vielleicht gefährlicher ist der Versuch, geistige Überlegenheit zu schaffen. Wer das brutale Auswahlsystem in der Bildung von 1,4 Mrd. Chinesen und den daraus resultierenden Leistungshunger kennt, weiß welche Konkurrenz auf die Jugend Deutschlands zukommt, wo die Leistungsnormen kontinuierlich gesenkt wurden.

Europa, aus chinesischer Sicht ein Wurmfortsatz Asiens, muss nun die Idee des Westens in Asien wie in Afrika als Alternative zum chinesischen Modell anbieten, Europa muss in Asien selbstbewusst Flagge zeigen, muss bei Katastrophen helfen, muss aber auch militärisch präsent sein, beispielsweise im südchinesischen Meer, um die Freiheit der Hohen See zu wahren. Wie heute passiv zu bleiben heißt sich auf Unterwerfung einstellen. Viel Zeit aufzuwachen bleibt Europa nicht, ich denke zehn Jahre ist eine optimistische Schätzung. Kann Europa in dieser jetzt erkennbaren Welt seine Sicherheit in seine eigenen Hände nehmen? Meine Antwort ist nein, aber es muss jetzt endlich anfangen. Dafür gäbe es einen Ausgangspunkt: Präsident Macron hat ein Europa, das schützt vorgeschlagen. Deutschland sollte das als Partner aufgreifen und anders als Ende der 80er Jahre zu „partnership in leadership“ bereit sein. Deutschland ist zu klein ist um Hegemon zu werden, aber es muss endlich akzeptieren, dass es einfach zu groß ist um nur guter Nachbar zu sein und dass es Verantwortung für mehr als sich selbst hat.

Doch Sicherheit auf dieser Beurteilung der näheren Zukunft aufzubauen wäre immer noch zu kurz gesprungen. Wir müssen versuchen die nächsten Jahrzehnte einzuschätzen.

Neue und künftige Risiken und Gefahren

Welche Entwicklungen sind erkennbar? Ich nenne drei.

1. Wir werden die Entwicklung einer Welt mit vielen regionalen Machtzentren ohne eine unumstrittene Ordnungsmacht erleben. Einzig die USA werden in allen Machtkategorien in den nächsten Jahrzehnten global handlungsfähig sein, doch sie sind es leid, Weltpolizist zu sein. Sie werden sich nach Innen wenden, sie könnten im Inneren sehr turbulente Zeiten bis hin zur Spaltung erleben, aber sie werden sich nicht von der Welt abwenden. China strebt nach ähnlich umfassenden globalen Fähigkeiten, zunächst mit eher begrenzter Reichweite, wird dafür aber selbst dafür wohl noch Jahrzehnte brauchen. China wird trotz seiner gewaltigen inneren Probleme der globale Gegenspieler des Westens werden, nicht Russland.

2. Es wird eine zunehmend urbanisierte Welt mit riesigen Städten entstehen, in der neue, fast von Jedermann zu nutzende Technologien vermehrt durch international kooperierende Kriminalität genutzt werden dürften. Das Gewaltmonopol der Staaten könnte daran zerbrechen. Innerstaatliche Konflikte könnten zunehmen. Die Glaubwürdigkeit heutiger Ordnungen könnte auch in Europa als Folge hybrider Kriegführung und terroristischer Gewalt so erschüttert werden, dass erst Autokratie und dann Unregierbarkeit und Staatszerfall die Folgen sind. Erste Anzeichen sind die Neuordnung der Parteienlandschaften in Frankreich und Italien, aber auch die hier erkennbare Fragmentierung.

3. Denkbar erscheint die Bildung riesiger industrieller Kartelle, die zwar noch in Staaten ihre Hauptquartiere haben, aber global fertigen und sich jeder nationalen Kontrolle und jeglichem politischen Einfluss entziehen. Sie dürften mächtiger werden als jede Regierung und sie werden ihre Macht ohne Rücksicht auf die Menschen anwenden, denn sie folgen nur den Gesetzen des Marktes.

Es ist also eine Welt ohne einigende Weltordnung und ohne verbindende Werteordnung zu erwarten. In ihr gibt es die bekannten Konfliktursachen wie ungelöste territoriale Ansprüche, ethnische Probleme und religiöse Spannungen. Doch weil gleichzeitig der erwähnte Wettkampf der Wertesysteme toben könnte, die Idee des Westens gegen Chinas Idee, könnten drei Entwicklungen Konflikte verschärfen und zu neuen strategische Herausforderungen führen: Demographische Verschiebungen, Ressourcenknappheit und Klimawandel.

Demographie

Europa muss mit seinen alternden und schrumpfenden Gesellschaften Zusammenhalt, Wohlstand und ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit schaffen ohne zu Lasten der Jugend unbezahlbare Rentenphantasien zu entwickeln und es muss dem erwähnten, auch ohne Klimawandel steigenden Bevölkerungsdruck aus Afrika begegnen. Dramatischer könnte auch Russlands Lage werden. Die Bevölkerung dürfte bis 2050 auf weniger als 100 Millionen Menschen sinken, davon wird die Mehrzahl dann muslimisch sein. Äußeren Gefahren, aber auch dem heute bereits durch illegale Immigration entstehenden chinesischem Bevölkerungsdruck im rohstoffreichen Sibirien, dürfte dieses Russland kaum gewachsen sein.
China wird zwar weiter wachsen, nicht so stark wie Indien, aber es wird Überalterung und Arbeitskräftemangel erleben. Die unzureichende Altersversorgung könnte die Gesellschaft spalten und so expansive Außenpolitik erschweren. China wie in Indien brauchen kontinuierlich reales, kaum zu erreichendes Wirtschaftswachstum von etwa 8%, nur dann gibt es innere Ruhe.

In den USA wie in Südamerika nimmt die Bevölkerung zu und bleibt so jung wie heute. Zum wahrhaft globalen Problem wird das Bevölkerungswachstum in Afrika, zum Risiko allerdings wird es, weil vor der Haustür, nur für Europa.

Ressourcenmangel

Bevölkerungswachstum erzeugt Ressourcenmangel. Für die Menschheit des Jahres 2050, dann rund 9 Mrd., steigt der Lebensmittelbedarf um etwa 30 %. Sie zu ernähren heißt die Produktivität der Landwirtschaft um 60% zu steigern. Zusätzlich muss die heutige Verschwendung ein Ende finden, fast 50% der Lebensmittel wandern hierzulande in den Müll. Vergessen wir nie: Hunger erzeugte immer in der Geschichte Aufruhr und Gewalt. Heute hungern mehr als 800 Millionen Menschen, aber die EU verschwendet Milliarden für die Vernichtung und Subvention überschüssiger Lebensmittel. Steigender Lebensmittelbedarf bedeutet auch steigenden Wasserbedarf. Derzeit sind 870 Millionen Menschen, davon alleine 300 Millionen Chinesen, ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jeden Tag sterben weltweit rund 1000 Kinder, weil sie verschmutztes Wasser getrunken haben. Wassermangel könnte zur Konfliktursache werden.

Aber auch um andere Ressourcen dürfte es Streit geben. Viele davon werfen wir in den Müll statt zu recyclen und erzeugen damit ein möglicherweise sogar konfliktträchtiges Müllproblem. Ich spreche also nicht von Öl und Gas, ich meine knappe Metalle und seltene Erden. Beträchtliche Segmente der Industrieproduktion, beispielsweise Elektromobilität, hängen von deren Verfügbarkeit ab. Verteilungs- und Zugangskonflikte sind daher nicht auszuschließen. Schließlich, auch der Zugang zu Daten, für mich das Öl des 21. Jahrhunderts, und deren Kontrolle, könnte zu Verteilungs- und Zugangskonflikten führen.

Klimawandel

Die Folgen des Klimawandels könnten in häufiger werdenden Naturkatastrophen Ausdruck finden, vor allem aber dürften sie für die Trinkwasserversorgung und die Nahrungsmittelproduktion dramatisch sein. Sie könnten so Konfliktursache werden.

Auch die geostrategischen Folgen bergen Konfliktpotential: Vor Europas Haustür liegt das am stärksten betroffene Seegebiet, der Arktische Ozean. Er könnte in den nächsten 20 Jahren ganz oder überwiegend eisfrei werden. Es wird neue Abbaumöglichkeiten, dort werden 15 % der Öl- und 25 % der Gasreserven der Welt sowie erhebliche Vorkommen an Mineralien und Metallen vermutet, und es wird 5000 Seemeilen kürzere Seewege nach Asien geben. Ein riesiges, bislang kaum genutztes Seegebiet ist zu überwachen. Von seiner freien Nutzung hängen alle Nationen Europas ab. Sie dort wie derzeit im Südchinesischen Meer zu gefährden bedeutet existentielle Gefahr für Europa.

Neue Technik, neue Konflikte

An Konfliktursachen besteht also kein Mangel und leider werden Konflikte auch noch leichter zu führen sein. Der Zugang zu Waffen und Mitteln der Gewaltanwendung wird leichter und deren Anwendung immer einfacher. Das Gewaltmonopol der Staaten könnte brechen. Rasanter technischer Fortschritt dürfte neue Formen der Kriegführung schon bald möglich machen. Die meisten Konflikte im 21.Jahrhundert werden ganz anders verlaufen als bisherige Kriege zwischen Staaten. Die werden wohl in Europa und Nordamerika unwahrscheinlich bleiben. Aber es wird neue, anfänglich fast nicht erkennbare Formen geben, die Staaten wehrlos machen können bevor auch nur ein Schuss fällt. Nichtstaatliche Akteure, die über das volle Gewaltpotential eines Staates verfügen, könnten sich mit Staaten anlegen. Ich meine damit meine ich nicht Digitalisierung und Cyber Operations, die sind mit tausenden von Angriffen pro Monat schon Gegenwart, aber über die Konsequenzen spricht man nicht: Cyber Angriffe berühren alle Bereiche der Gesellschaft. Will man sie schützen, dann muss man in der Lage sein mitten im Frieden in andere Systeme einzudringen und sie zu lähmen. Doch das Feld künftiger Entwicklungen ist viel weiter. Es reicht von neuen Antriebstechniken über Nano-Technologie, den Quantencomputer, Bionik in Verbindung mit Robotik bis hin zur Künstlichen Intelligenz mit der man all diese Techniken verbinden und so Instrumente schaffen kann, die taktische und operative, vielleicht sogar strategische Überraschung erzielen können. Manches existiert schon in den Laboratorien und weit mehr wird kommen. Daraus werden schwierigste ethisch-moralische, aber auch politisch-rechtliche Fragen entstehen. Das für mich nicht akzeptable autonome Töten könnte dabei noch eine der einfachsten sein. Jahrelanges Aussitzen ist schon heute keine Option, künftig erst recht nicht. Natürlich wäre es gut, wenn man vorbeugende Rüstungsbegrenzung beispielsweise bei Künstlicher Intelligenz erreichen könnte. Ich fürchte allerdings, es ist schon zu spät, denn die Nichtstaatlichen werden erwerben, was die Staaten sich so selbst verweigern.

Hinzukommt die anhaltende Gefahr der Weitergabe von Atomwaffen. Sie wächst mit jeder neuen Atommacht. Die Zahl der Atomwaffenstaaten dürfte zunehmen, denn Putins Vorgehen auf der Krim hat das Abkommen von Budapest als Lockmittel entwertet: Wer glaubt denn noch an die Garantie staatlicher Integrität als Preis für den Verzicht auf Atomwaffen?

Für weit gefährlicher aber als Atomwaffen halte ich B-Waffen, die schon morgen schwerste Gefahren für eine immer verwundbarer werdende Staatenwelt bringen könnten. Biologische Kampfmittel gewissenlos eingesetzt können Pandemien auslösen und, punktuell verwendet, Staaten lähmen. Sie entwerten Abschreckung, weil Ursprung und Beginn des Angriffs kaum noch zu erkennen sind. Sie sind der Traum aller Terroristen.

Verstärkt werden diese Sorgen durch die Möglichkeit des weiteren Zerbrechens der Staatenwelt. Die westfälische Staatenordnung scheint zu zerbrechen. Nicht-staatliche Akteure könnten mehr Macht haben als Staaten. Nehmen Sie als Beleg nur die Finanzvolumina: Alle Staaten dieser Welt gaben 2014 zusammen für Verteidigung 1,2 Billionen USD aus, die Gewinne aller kriminellen Organisationen der Welt im gleichen Zeitraum werden auf das Doppelte geschätzt. Die Kriminellen aber sind weder an Recht noch Gesetz gebunden und können Geld blitzschnell in unkontrollierte Macht umsetzen, vor allem sie können dank ihres Geldes Zugang zum zentralen Machtmittel des 21. Jahrhunderts gewinnen, den Daten. Damit könnten sie sich Zugang zu fast allen Machtmitteln verschaffen und die Vernetzung der Welt plus Geld plus Daten erlaubt es, sie blitzschnell zu verschieben. Täglich sind heute neun Millionen Menschen mehr oder weniger sorgfältig kontrolliert im Flugzeug unterwegs und es werden Tag für Tag 115.000 Tonnen Luftfracht bewegt und auf See werden pro Jahr sagenhafte 9,5 Mrd. Tonnen transportiert. Allein aus den Verkehrsflüssen der vernetzten Welt lassen sich Optionen eines überraschenden militärischen Eingreifens entwickeln. Aus der Vernetzung der globalisierten Welt können somit überraschende militärische Optionen entstehen. Überraschungen wie 9/11 zu verhindern verlangt ein weit höheres Maß an Überwachung und Kontrolle als bislang angedacht.

Wege zum Schutz

Die Gefahren und Risiken habe ich nun skizziert. Niemand hat bislang ein schlüssiges und zusammenhängendes Konzept wie man ihnen begegnen und Konflikte verhindern kann. Es gibt weder eine umfassende Strategie noch wirksame Mittel, ja sogar unsere heutigen Regierungsorganisationen erscheinen ungeeignet in komplexen Krisen, in einer Welt voller Ungewissheit, Unsicherheit und Unordnung schnell genug zu handeln. Diese Welt steht aber schon vor unserer Tür, doch Europa braucht sogar zum Schutz vor den Gefahren der Gegenwart die USA. Nur zögerlich und langsam beginnt der Umbau der Sicherheitsorgane, doch das Denken ist weitgehend von Reaktion und vom Krieg von gestern geprägt. Aber Zeit für den großen Wurf, die umfassende Reform gibt es nicht. Alle Anpassungen sind sozusagen bei laufendem Motor Schritt für Schritt vorzunehmen, weil die Kernaufgabe, Schutz der Bürger und der Integrität der Staats- und Bündnisgebiete, jetzt und jederzeit wahrzunehmen ist.

Ich habe nun nicht vor, den Zustand von Polizei, Bundeswehr, Katastrophenschutz, die Schwächen unserer föderalistischen Strukturen, unsere manchmal mehr dem Täter- denn dem Opferschutz Vorrang gebende Rechtsprechung und Weiteres zu beurteilen. Ich könnte das allenfalls für die Bundeswehr, tue aber auch das nicht, weil das Sache der leider schweigenden Aktiven ist. Doch zwei Anmerkungen zur Bundeswehr seien erlaubt, denn die Bundeswehr von heute ist nur sehr eingeschränkt in der Lage ihre Aufgaben laut Weißbuch der Bundesregierung zu erfüllen, obwohl die Truppe sich redlich müht und in den Einsätzen ihre Sache gut macht:

1. So richtig die Planungen für die Jahre bis 2032 für die Aufgaben der Gegenwart sind, und sie haben nichts mit Aufrüstung zu tun, sie bedürfen der Überprüfung und Ergänzung um zukunftsfest zu sein und sie müssen zusätzlich nachhaltig und kontinuierlich finanziert und beschleunigt werden. Niemand hat Zeit bis 2032.

2. Die Bundeswehr muss in der Lage sein in Konflikten hoher Intensität ausdauernd kämpfen zu können. Dazu muss man sich wieder an den bewährten Grundsatz erinnern: Train as you fight. Die Truppe muss ohne bundesweites Einsammeln von Personal und Material in den Einsatz gehen können, Teile binnen Stunden, weil Reaktion oftmals nicht mehr genügt.

Doch beim Umbau ist auch zu bedenken, ob die heutigen Regierungsformen, die heutige multilaterale, nach vereinbarten Regeln handelnde Ordnung erhalten werden kann. In meinen Augen sind für NATO wie EU neue Visionen, heute sagt man wohl Narrative, zu erfinden um die Menschen mitzunehmen und hinter den Zielen dieser Organisationen, und die müssen umfassender, nicht sektoraler, also nicht nur militärischer Schutz sein, zu vereinen. Dazu sind Strategien zum Schutz von morgen zu entwickeln und auch dabei die Bürger mitzunehmen.

Strategie neu denken

Das klassische Paradigma auch heutiger Strategien ist es, die Machtmittel des Gegners zu zerstören um ihm dann den eigenen politischen Willen aufzuzwingen. In der sich abzeichnenden instabilen und fragmentierten Welt ist das nicht mehr möglich, weil niemand mächtig genug ist mit allen anderen Gruppierungen gleichzeitig fertig zu werden. Es gibt mit den USA zwar noch einen staatlichen Akteur gibt, der über alle Mittel der Politik verfügt und sie auch global nutzen kann, der aber selbst auch verwundbar ist, dessen Gesellschaft gespalten ist und der damit nicht mehr dominant ist. Zusätzlich sind die Gegner möglicherweise nicht mehr lokalisierbar. Damit ist herkömmlichen Strategien die Grundlage entzogen. Strategie ist also neu zu denken. Ein Paradigmenwechsel zeichnet sich ab, denn es dürfte oftmals eher präventiv denn reaktiv, vermutlich öfter global denn regional zu handeln sein. Die deutschen politischen Standardaussagen: Es gibt keine militärische Lösung und Gewalt ist das letzte Mittel der Politik, wobei das darauf beruht, dass man ultima ratio fälschlich als letztes nicht aber wie es richtig wäre als äußerstes Mittel übersetzt, sind heute falsch, in Zukunft sind sie es noch viel mehr. Lassen Sie mich hier aktuell einfügen: Wer jetzt schon, ebenso überflüssig wie voreilig, militärisches Handeln nach einem denkbaren erneuten C-Waffen Einsatz in Syrien ausschließt wird der Verantwortung, die sich aus Deutschlands Zustimmung zur Schutzverantwortung (R2P) nicht gerecht, und schlimmer noch macht sich indirekt der Beihilfe schuldig, weil er einem Verbrecher wie Assad freie Hand gibt.

Neu denken, bedeutet im Falle Deutschlands natürlich Festlegungen zu beachten, die politisch nicht oder kaum zu verändern sind. Dazu zähle ich in erster Linie das Verbot des Angriffskrieges nach GG, aber auch den völkerrechtlich verbindlichen Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen. Letzterer bedeutet in einer Welt mit möglicherweise mehr Atomwaffenstaaten, dass es Sicherheit für Deutschland nur geben kann, wenn es mit einem zum Zweitschlag fähigen Atomwaffenstaat verbündet bleibt und bei diesem durch nukleare Teilhabe ein Höchstmaß an verfassungskonformer Mitentscheidung erreicht. Von deutschen Atomwaffen halte ich nichts und das in den UN diskutierte Verbot von Atomwaffen halte ich für ebenso illusionär wie eine globale Null-Lösung unerreichbar ist.

Die Festlegung des Art 85 GG auf Verteidigung sehe ich nicht als eine Begrenzung, die es verbieten würde deutsche Streitkräfte im Rahmen von Bündnissen auch global einzusetzen. In diesem Rahmen und vor dem Hintergrund der geschilderten Gefahren sollte Deutschland in meinen Augen eine eigene strategische Zielvorstellung entwickeln, damit es initiativ die Entwicklung europäischer Sicherheit gestalten kann.

Das muss im Inneren beginnen. Nur mit dem Rückhalt einer Mehrheit kann Deutschland mit seinen Partnern Lösungen suchen. In Europa wissen alle, dass die Wurzel aller europäischen Schwäche in Sachen Verteidigung in Deutschland begraben liegt, weil es in Europa ohne ein zum Handeln entschlossenes und zu Verantwortung bereites Deutschland kein Einvernehmen gibt. Noch immer hält eine Mehrheit Sicherheit eine Sache der Anderen, so entstand die scheinbar noble Formel von der Kultur der Zurückhaltung, von den Verbündeten Drückebergerei genannt. So entstand auch der schon als Pawlowscher Reflex zu sehende Aufschrei Aufrüstung, wenn zur Beseitigung der durch Nachlässigkeit in den letzten zwanzig Jahren herbeigeführten Mängel der Bundeswehr der Verteidigungsetat angehoben wird. Und so entstand auch der politisch jederzeit änderbare Parlamentsvorbehalt, von den Verbündeten als Notbremse gesehen, wenn Deutschland keine andere Ausrede einfällt sich zu drücken. Ein Weiteres kommt dazu: Deutschland steht mit seinen oftmals illusionären, den Einsatz von Militär von Anfang an ausschließenden Vorschlägen zur Krisenbewältigung in NATO wie EU ebenso wie mit seinen Beschränkungen des Rüstungsexports ziemlich allein. Es besteht keinerlei Aussicht, die deutschen Ansichten in Europa zur Mehrheitsmeinung zu machen, in der NATO erst recht nicht. Ein weiterhin so denkendes Deutschland ist strategieunfähig, weil nicht nur die Mittel zu handeln teilweise fehlen, sondern weil vor allem der Wille fehlt mit allen gebotenen Mitteln zu handeln. Bliebe das so dann könnte Deutschland ganz schnell isoliert sein. Isoliert aber setzt man international gar nichts mehr durch, sondern wird Getriebener, im deutschen Falle noch dazu auf ganz dünnem Eis. In einer Welt ohne Weltordnung, die noch dazu aus allen Fugen geraten ist, ist das brandgefährlich. Hinzu kommt, Europa ist jetzt das letzte Bollwerk der Idee des Westens. Doch Europa bleibt gelähmt, solange Deutschland nur nach Innen sieht und sich damit immer wieder selbst lähmt. Deutschland darf nicht den Sirenenklängen eines Peter Gauweiler und anderer folgen, das wäre Traumtänzerei und der direkte Weg in den Abgrund der Isolation. Ohne ein zu Verantwortung und, trotz Konsensgesellschaft, wo nötig, zur Führung entschlossenes Deutschland gibt es kein gemeinsames Handeln Europas so wie es ohne europäische Geschlossenheit auch keine verlässliche Unterstützung durch die USA gibt. Deshalb Deutschland muss jetzt handeln, denn Niemand hat Zeit bis 2032.

Was ist zu tun?

  • Es muss der Wille entstehen zu handeln. Wir brauchen dazu eine schonungslose öffentliche Debatte über die Lage und den Handlungsbedarf. Die Bundesregierung muss endlich Klartext reden und die Menschen nicht länger mit schwammigen, aber unrealistischen Formeln der Hoffnung auf Verhandlungen, Rüstungskontrolle und Abrüstung in Sicherheit wiegen. Handlungsfähigkeit besteht aus politischem Willen und Rückhalt der Bevölkerung. Dazu braucht Deutschland Debatten, die auch einmal weh tun. Die strategische Linie bleibt: Verteidigungsfähigkeit und Dialog. Aber nur ein in allen Kategorien politischer Macht handlungsfähiges Deutschland öffnet Europa die Tür zum Dialog mit den USA, mit China und mit Russland.
  • Es sind die dazu nötigen Instrumente zu schaffen. Dazu muss Deutschland die Entwicklung eines europäischen Konzeptes anzustoßen, gemeinsam mit Frankreich und möglichst auch Großbritannien, das aufzeigt wie Sicherheit für Europa und seine strategische Peripherie von der Arktis bis zum Indischen Ozean zu erreichen ist. Daraus sind die erforderlichen Fähigkeiten aller Sicherheitskräfte einschließlich eines auch außerhalb Europas einsatzfähigen europäischen Katastrophenschutzes, der auch zur Eindämmung von Pandemien fähig sein muss, und europäischer Streitkräfte zu Lande, in der Luft, zur See, im Cyberspace und im Weltraum abzuleiten. Möglichst viele solcher Fähigkeiten sind als gemeinsame europäische Komponenten zu entwickeln. Dazu muss in Teilbereichen nationale Souveränität auf internationale Organisationen übertragen werden, auch um eben präventiv handeln zu können. Das heißt nicht Europaarmee, die Masse der Streitkräfte bleibt unter nationalem Befehl, ist aber möglichst identisch auszurüsten. In Deutschland muss dazu der Parlamentsvorbehalt reformiert werden um Zweifel an deutscher Verlässlichkeit auszuräumen. Auch die Klammer mit den USA, Kanada und der Türkei muss durch eine gewandelte NATO bestehen bleiben. Die muss bereit sein muss, überall dort zu handeln wo gemeinsame Interessen zu schützen sind.
  • Es ist eine umfassende Sicherheit, die zu schaffen ist. Dazu wäre es sinnvoll, einen ständigen Bundessicherheitsrat zu schaffen und es wäre wünschenswert, zu Beginn jeder Legislatur die nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands im Bundestag zu erörtern.
  • Es ist die Bundeswehrplanung ist zu überprüfen und anzupassen, vor allem ist sie zu beschleunigen, finanziell abzusichern und administrativ umsetzbar zu machen. Das bedeutet sicher mindestens die 1,5% des BIP, die die Kanzlerin jüngst für 2024 zusagte, ist aber dennoch nur Ausrüstung, nicht Aufrüstung, denn es sind eben auch neue Felder wie Cyber, AI und Robotik zu bedenken.

Könnte mit einem so zum Schutz bereiten Europa die Idee des Westens im Wettstreit der Systeme bestehen? Ohne die USA wohl kaum. Deshalb müssen die USA durch die glaubhaft demonstrierte Fähigkeit Europas sich zu schützen und gemeinsam zu handeln erneut gewonnen werden gemeinsam transatlantische Sicherheit zu gestalten. Das wäre vielleicht die Chance zu verhindern, dass bis zu acht Jahre Trump’schen Nationalismus die USA dauerhaft verändern. Sicher, die Idee des Westens, ausgedrückt durch die Deklaration der Menschenrechte, geschützt durch Demokratien, in denen die Macht des Rechts auch den Schwachen vor der Gewalt des Stärkeren schützt, umhegt von multilateralen Organisationen und Bündnisse wie EU und NATO, ist die Idee einer schwindenden Minderheit, aber es ist die beste Idee, die Menschen je für ihr Zusammenleben entwickelt haben. Dafür kann man in den USA wie in Europa Mehrheiten gewinnen, denn würden wir scheitern, dann gäbe es vermutlich eine Rückkehr in die Welt von Nationalstaaten. Deren Gefahren, also die Gesetze des Dschungels, kennt niemand besser als Europa. Oder es setzt sich das von Xi angebotene Modell einer neuen globalen Weltordnung ohne Freiheit des Einzelnen durch. Das hieße für Europa Unterwerfung und darauf kann es für freie Menschen nur eine Antwort geben: Niemals, auch wenn das Opfer bedeutet.

Es geht um unsere Freiheit, nicht eine Freiheit, die alle Bindungen abstreift, sondern um die Freiheit für etwas, für die Verantwortung den Menschen durch die Macht des Rechts zu schützen.

Deutschland muss deshalb jetzt Verantwortung übernehmen, es muss endlich anfangen strategisch zu denken, zu planen und zu handeln, muss tun was die Kanzlerin sagte, allerdings ohne zu erklären was sie damit meinte: Es muss den Anstoß geben, dass Europa nun sein Schicksal ein Stück weit in die eigene Hand nimmt.

Nur wenn Deutschland und damit eben Europa dazu den politischen Willen aufbringen, die Kraft haben sie, kann Europa seine Sicherheit und damit die Zukunft seiner Kinder gestalten.

Vielleicht liegt in der Idee, in Europa in einer Welt voller Unsicherheit als Erstes gemeinsame Sicherheit zu gestalten, auch die Chance eine neue, einigende Vision zu entwickeln, ein Wir Gefühl, das Allen die Kraft geben könnte den Scharlatanen links wie rechts jede Chance zu nehmen.

Deutschland und Europa können in den Stürmen unserer Zeit bestehen, wir müssen es nur wollen. Verharrt Deutschland in seinen Träumen, dann wird Europa an Deutschland scheitern und dann träte ein, was Willy Brandt einmal sagte: Sicherheit ist nicht Alles, aber ohne Sicherheit ist Alles Nichts.

Naumann am Rednerpult

"Weil Freiheit, geschützt von Menschen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen, die beste Idee ist, die Menschen je für ihr Zusammenleben entwickelt haben, besteht eine gute Chance die Idee des Westens zu retten [...]." (General a.D. Klaus Naumann im HSS-Interview)

Witte; HSS

Interview mit General a.D. Klaus Naumann

HSS: Sehr geehrter Herr General Naumann, der deutschen Politik wird oftmals ein „Fahren auf Sicht“ vorgeworfen und damit einhergehend mehr strategisches Denken in der Betrachtung von sicherheitspolitisch-relevanten Fragestellungen gefordert. Wie schätzen Sie gegenwärtige Strategiefähigkeit Deutschlands ein?

General Naumann: Strategiefähigkeit bedeutet für die deutsche Politik getragen vom Willen der Mehrheit der Bürger erstens eine klare strategische Zielvorstellung zu haben wie man Sicherheit für Deutschland in einer unruhigen Welt voller Risiken und Krisen erreichen will, zweitens, welche Instrumente man dazu braucht und drittens, den Willen zu haben, diese Instrumente von Bündnissen über Nachrichtendienste, Polizeien, Militär und Hilfsdienste einsatzbereit zu halten und sie entschlossen zur Konfliktverhinderung und -beendigung einzusetzen. Keine dieser Bedingungen sehe ich gegenwärtig in Deutschland als in ausreichendem Maße erfüllt an. Nehmen Sie als Beleg mangelnder strategischer Reife nur die automatische Reaktion in Krisen aller Art: Es gibt keine militärische Lösung oder die angstverzerrte Reaktion auf das Wort nuklear in einer Welt in der das Gewicht von Atomwaffen zunimmt. Ich halte Deutschland gegenwärtig für nicht strategiefähig.

HSS: Nicht zuletzt aufgrund der zunehmend komplexen sicherheitspolitischen Lage bedarf es einer proaktiven und langfristig ausgelegten Strategie für die deutsche Politik. Allerdings scheinen die Herausforderungen für die Bundesrepublik und Europa nahezu grenzenlos: Russland, China, der Krisenbogen im Mittleren Osten und Afrika, selbst die USA unter Donald Trump werden zuweilen zum Instabilitätsfaktor. Hinzu kommen nichtstaatliche Akteure, technologische und demographische Entwicklungen, die Konfliktpotentiale zukünftig steigern können. Wie können sich Europa und die Bundesrepublik gegen diese Risiken wappnen? Wo sollten die Prioritäten liegen?

Der erste Schritt sollte eine klare, mit unseren Verbündeten abgestimmte Einschätzung der gegenwärtigen, der mittelfristig erkennbaren und der sich langfristig abzeichnenden Risiken und Gefahren sein, die der deutschen Öffentlichkeit in klaren Worten zu vermitteln wäre, damit die Bereitschaft entsteht zum Schutz unserer freiheitlichen Lebensordnung Verantwortung zu übernehmen und dafür nötigenfalls auch Opfer zu bringen. Das ist für mich die erste Priorität. Danach gilt es zu ermitteln wie und mit wem man den nötigen Schutz erreichen kann und dann sind als Drittes die notwendigen Fähigkeiten bereitzustellen.

HSS: Ein bemerkenswerter Satz Ihres Vortrags lautete: „Auch ohne die Einwirkung von Gegnern hat sich die Lage Europas verschlechtert.“ Könnten Sie diese Einschätzung erläutern?

Europas Lage hat sich verschlechtert, weil die Europäische Union mit Zerfallstendenzen verschiedenster Art zu kämpfen hat. Da ist die anhaltende Spaltung in Nord und Süd in Währungsfragen, die möglicherweise durch die wirklichkeitsfremden Vorstellungen der ohnehin schon hoch verschuldeten italienischen Regierung noch vertieft werden kann. Da ist zweitens Uneinigkeit unter den Staaten Europas was Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bedeuten und da sind die möglicherweise im Bereich der Sicherheit dramatischen negativen Auswirkungen des Brexit. Allein schon aus dieser Lage entsteht Schwäche und Abhängigkeit vom Schutz durch andere und der wackelt angesichts eines amerikanischen Präsidenten, der sich bislang nicht durch berechenbare Verlässlichkeit auszeichnete, obwohl die USA ihre Anstrengungen zum Schutz Europas unter Trump verstärkt haben.

HSS: Im Zuge von Brexit und Donald Trumps nationalistisch ausgerichteter Außenpolitik häuften sich in Europa die Forderung nach mehr eigener strategischer Autonomie. Wie bewerten Sie diese Bestrebungen und vor allem die Initiativen (CARD, EVF, PESCO), die in den letzten Jahren in dieser Hinsicht angestoßen wurden?

Europa hat zweifelsohne Schritte unternommen eigenständiger handeln zu können. Vieles ist in der Umsetzung, aber von einer Fähigkeit eigenständig auch in komplexen Krisen handeln zu können ist Europa doch noch ein gutes Stück entfernt. Die seit 2017 unternommenen und im Zusammenhang zu sehenden Schritte CARD, EVF und PESCO können ein Stück Autonomie schaffen, nicht aber die dringend gebotene begrenzte Interventionsfähigkeit, vor allem aber, ob die EU den politischen Willen aufbringt in der Zukunft verfügbare Instrumente auch einzusetzen bleibt offen. Die bislang nicht erfolgte Nutzung der seit 2005 bestehenden EU Battle Groups zeigt, dass Europa sich viel zu sehr darauf verlässt, dass andere handeln, wenn es brenzlich wird.

HSS: Neben handfesten Sicherheitsrisiken wird die „westliche“ Ordnungsvorstellung auch ideell herausgefordert. Sie warnen davor, dass China daran ist, ein alternatives Weltordnungsmodell zu etablieren. Wie würden Sie dieses charakterisieren und wie können wir die „Idee des Westens“ mitsamt ihrem freiheitlichen, multilateralen und regelbasierten Kern retten?

Im Gegensatz zur Idee des Westens, die den Schutz des freien Bürgers vor aller Gewalt durch den demokratischen Rechtsstaat und die Macht des Rechts in den Mittelpunkt stellt, bietet Xi-Jingpings Idee eines allmächtigen, von einer Zentralgewalt kontrolliertem Staat dem Bürger das vom Staat bestimmte Maß an Wohlstand, sofern er die ihm auferlegten Pflichten erfüllt. Nicht Freiheit steht im Mittelpunkt, sondern im Sinne Konfuzius Pflicht. Weil Freiheit geschützt von Menschen, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen, die beste Idee ist, die Menschen je für ihr Zusammenleben entwickelt haben, besteht eine gute Chance die Idee des Westens zu retten, vorausgesetzt der Westen steht zusammen und bewahrt die Idee einer multilateralen, nach vereinbarten Regeln handelnden Ordnung.

HSS: Angesichts der von Ihnen skizzierten globalen Veränderungen und sicherheitspolitischen Herausforderungen fordern Sie daher, „Strategie neu zu denken“. Wie sollte Deutschland seine Strategie neu denken? Welche Anforderungen ergeben sich für Politik und Gesellschaft? Bedarf es unter Umständen auch strukturellen und gegebenenfalls gesetzliche Änderungen?

Seit Mitte der 90er Jahre kamen aus Deutschland kaum noch Anstöße zur Entwicklung strategischer Konzepte. Wir sind stehen geblieben bei dem Versuch durch Abschreckung Krieg zu verhindern und, falls das misslingt in regionalen Konflikten durch Reaktion und Eskalation die Initiative zu gewinnen um schlussendlich so die Integrität des eigenen Staats- und Bündnisgebietes zu wahren. Dieser Ansatz funktioniert in der Welt von heute nicht mehr. Es muss vermutlich oft präventiv statt reaktiv gehandelt werden, weit öfter global statt regional und es müssen neue Wege der Abschreckung gesucht und gefunden werden. Dazu muss das nicht nukleare Deutschland gemeinsam mit den europäischen Atommächten Ideen entwickeln wie durch ausgewogene Lastenteilung der transatlantische Verbund zu erhalten und Konfliktverhinderung zu erreichen ist. Das könnte verlangen die nach Ressortprinzipien geordnete, durch Abstimmungsbedarf zu schwerfällige Regierungsorganisation zu überprüfen, weil umfassendes, nicht länger sektorales Handeln unter Nutzung aller Instrumente der Politik und aller Möglichkeiten der Verbündeten gefordert ist. Die Einrichtung eines handlungsfähigen Nationalen Sicherheitsrates wäre ein erster, überfälliger Schritt in diese Richtung.

HSS: General Naumann, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Interview führte Andrea Rotter, HSS.