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Europas Agenda unter der niederländischen Ratspräsidentschaft

Vom 1. Januar bis 30. Juni 2016 übernehmen die Niederlande den EU-Ratsvorsitz. Die Vorstellung der Schwerpunkte der niederländischen Ratspräsidentschaft durch Botschafter Pieter De Gooijer am 11. Dezember 2015 in Brüssel verband Reinhold Bocklet, I. Vizepräsident des Bayerischen Landtags, mit einer Grundsatzrede über Europa.

Auf dem Podium: Pieter De Gooijer, Reinhold Bocklet und Moderatorin Ingrid Habets vom Wilfried Martens Centre

Auf dem Podium: Pieter De Gooijer, Reinhold Bocklet und Moderatorin Ingrid Habets vom Wilfried Martens Centre

Orientierung am europäischen Mehrwert

Botschafter De Gooijer unterstrich einleitend, wie sehr sich die Welt und auch Europa in den letzten Jahren geändert hätten. Man lebe heute in unruhigen und instabilen Zeiten, die EU stecke in einer Existenzkrise, was durch Begriffe wie "Grexit" und "Brexit" hinreichend symbolisiert werde. Dieser ernste Hintergrund mache die niederländische Ratspräsidentschaft nicht zu einer Show-Veranstaltung mit schönen Fototerminen, sondern erfordere ein hohes Maß an Verantwortung und politischer Reife. "Sich normal benehmen und hart arbeiten" sei daher das Leitmotiv der nächsten Monate. Der Schwerpunkt liege auf den Politikbereichen, in denen europäisches Handeln einen wirklichen Mehrwert ausmache. Europa müsse groß im Großen und klein im Kleinen sein. Die europaweit wachsende Skepsis gegenüber Brüssel sei ein Weckruf an alle Akteure auf nationaler und europäischer Ebene. Unter dem Stichwort "Re-Connecting to Citizens" werde man die Kommunikation dahingehend verbessern, dass Vertrauen und Zuversicht in die EU-Institutionen wiedergewonnen werden könnten. Die traditionelle Europa-Erzählung, wonach sich die europäische Integration über das Friedensziel legitimiere, sei im Verblassen, heute gehe es vielmehr darum, auf gemeinsame Herausforderungen europäische Antworten zu finden. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise und die Terrorismusbedrohung werde man die Sitzungen der Justiz- und Innenminister von drei auf sechs erhöhen. Hier gebe Europa kein gutes Bild ab, die EU drohe an der Aufgabe zu versagen, Humanität und Kontrolle zu gewährleisten. Die Attentate in Paris hätten ferner gezeigt, dass die Kooperation zwischen Polizei und Geheimdiensten nicht optimal funktioniere, weshalb eine kritische Bestandsaufnahme sowohl der Flüchtlingspolitik als auch der Terrorbekämpfung in Europa dringend erforderlich sei.

Pieter De Gooijer

Pieter De Gooijer

Gemeinsame Werte und Solidarität als Grundlage für gemeinsame Lösungen

Botschafter De Gooijer forderte darüber hinaus einen entschiedeneren Bürokratieabbau zur Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen sowie eine deutlichere Ausrichtung der wirtschaftlichen Entwicklung insgesamt auf Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Die Liberalisierung des Binnenmarktes sei das größte aufkommensneutrale Konjunkturprogramm für Europa, das jedoch vor allem noch durch eine zögerliche nationale Umsetzung getroffener Entscheidungen behindert werde. In der Finanzpolitik stünden die Korrekturen an der Währungsunion auf der Tagesordnung, wozu De Gooijer insbesondere die Vollendung der Bankenunion zählte. Eindringlich appellierte er an alle Politikbereiche, Solidarität nicht als Einbahnstraße zu verstehen. Ohne gemeinsame Werte und Normen und gegenseitige Solidarität gebe es keine gemeinsamen Lösungen. Europa stehe inhaltlich unter Druck, auch die Strukturen in einer EU mit 28 Mitgliedsstaaten seien einem Stresstest ausgesetzt. Die Konsequenz laute aber nicht Vertragsänderungen, sondern pragmatische und ergebnisorientierte Arbeit zur Verbesserung der EU-Leistungsbilanz.

Jan van Laarhoven, Pieter De Gooijer und Reinhold Bocklet

Jan van Laarhoven, Pieter De Gooijer und Reinhold Bocklet

Vom Krisenmanagement zu vorausschauender Europapolitik

Reinhold Bocklet spannte den Bogen von den aktuellen Krisenthemen Migration, Finanzpolitik, Terrorismus, Brexit, Grexit, Russland, Syrien und Ukraine zu den Grundsatzfragen der Europapolitik. Es träfe sich gut, dass mit den Niederlanden jetzt ein Land den EU-Vorsitz übernehme, das jeglicher Hegemonialabsichten unverdächtig sei, dessen Vertreter als nüchterne Kaufleute gälten und das über reichlich EU-Erfahrung verfüge. Europa sei derzeit zu stark auf die inneren Herausforderungen fokussiert und habe auf den Wandel in der Welt unzureichend reagiert. Russland strebe mit neuem Selbstbewusstsein auf die globale Bühne zurück, die Transformationsprozesse in Nordafrika seien ins Stocken geraten und hätten zu Bürgerkriegen und zerfallenden Staaten geführt. Die Nachbarschafts- und Russland-Politik der EU habe bisher leider nicht zu mehr Stabilität, sondern zu mehr Konfrontation geführt. Europa versage beim Schutz seiner Außengrenzen, obwohl dies die Ausgangsbedingung für den Wegfall der Binnengrenzen gewesen sei. Es sei naiv gewesen, den für Normalzeiten gedachten Schengen- und Dublin-Abkommen so viel Krisenresistenz zuzumessen. Die unkontrollierte Migration könne schwerwiegende Konsequenzen haben: In bislang sehr solidarischen Gesellschaften wie etwa Deutschland nehme bei den Bürgern das Gefühl der Überforderung zu, das Anwachsen des Front National sei ein Alarmsignal an alle etablierten europäischen Parteien. Europa, so Reinhold Bocklet resümierend, müsse im Inneren die Balance finden zwischen nationalen Verantwortlichkeiten und europäischer Solidarität und bei den Entwicklungspartnerschaften zwischen realistischen Handlungsstrategien und anspruchsvollen Demokratisierungswünschen.

Dr. Jan von Laarhoven, Generaldirektor von Benelux, informierte über praxisnahe Initiativen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Er vertritt mit Benelux eine Institution, die sich um die praktische unternehmensrelevante Umsetzung von EU-Recht kümmert. Mit konkreten Beispielen wie zur immer noch zögerlichen gegenseitigen Anerkennung von Berufs- und Schulabschlüssen lieferte er interessante Einblicke in die europäische Binnenmarktpolitik.

Belgien (Europa-Büro Brüssel)
Dr. Thomas Leeb
Leiter