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Israel
Erneute Wahlen mit offenem Ausgang

Autor: Prof. Dr. Gisela Dachs

Die nächste Wahl in Israel steht am 1. November 2022 an. Offen ist, ob der Wahlausgang dieses Mal zu stabileren Verhältnissen führen wird. Für das Amt des Regierungschefs kandidieren der amtierende Interimsregierungschef Yair Lapid, Verteidigungsminister Benny Gantz sowie der frühere Ministerpräsident und heutige Oppositionschef Benjamin Netanyahu.

  • Wahlen am 1. November 2022 
  • Kandidatur von Yair Lapid, Benjamin Netanyahu und Benny Gantz
  • Innen- und außenpolitische Herausforderungen
  • Umgang mit der Palästinenserbehörde

Ein Jahr und eine Woche hatte das gesellschaftlich und politisch womöglich interessanteste Experiment in der westlichen Welt gehalten, dann warfen die beiden Verantwortlichen das Handtuch. Im Juni 2022 sahen der israelische Regierungschef Naftali Bennett und der „alternierende“ Ministerpräsident Yair Lapid keinen vernünftigen Weg mehr, mit ihrer Acht-Parteien-Koalition effizient weiter zu regieren. Sie riefen Neuwahlen aus. Ihre Regierung wird aber trotzdem in die Geschichte eingehen. Allein schon ihre Existenz markierte eine Zäsur, veranlasste sie doch ideologisch völlig unterschiedliche Gruppierungen zur pragmatischen Zusammenarbeit, was bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Fünfter Urnengang in weniger als vier Jahren

Am 1. November 2022 steht nun, innerhalb von weniger als vier Jahren, die fünfte Wahl des israelischen Einkammerparlaments, der Knesset, an. Es bleibt fraglich, ob der Ausgang diesmal zu stabileren Verhältnissen führen wird. Nach wie vor ist die politische Landschaft in zwei Blöcke gespalten, in ein Pro-Benjamin Netanyahu und ein Anti-Netanyahu-Lager. Keine Seite kann entlang dieser Bruchlinie auf eine klare Mehrheit zählen. Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus, mit einem leichten Vorsprung für das rechte Pro-Netanyahu-Lager.

Wer nicht weiß, dass gerade schon wieder Wahlkampf ist, würde es wohl kaum am Straßenbild merken. Dort hängen nur wenige Plakate. Der Schlagabtausch findet vornehmlich in den sozialen Medien statt, auf Facebook, Instagram und TikTok. Die Kandidaten sind ohnehin bekannt. Drei Männer bewerben sich ums Amt des nächsten Regierungschefs: Yair Lapid, der als Interimsregierungschef amtiert und der Zukunftspartei vorsitzt, Verteidigungsminister Benny Gantz als Kandidat der neu gegründeten Partei der Nationalen Einheit und der frühere Ministerpräsident und heutige Oppositionschef Benjamin Netanyahu, der sich wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten muss.

Der frühere Ministerpräsident und heutige Oppositionschef Benjamin Netanyahu kandidiert wieder für das Amt des Ministerpräsidenten.

Der frühere Ministerpräsident und heutige Oppositionschef Benjamin Netanyahu kandidiert wieder für das Amt des Ministerpräsidenten.

Matty STERN/U.S. Embassy Jerusalem/Roman Kubanskiy; CC-BY-2.0; Wikimedia Commons

Das Netanyahu-Paradox

Netanyahu ist in einem Paradox gefangen. Solange er da ist, werden sich viele weiterhin einer Koalition mit seiner konservativen Likud-Partei verweigern. Das könnte bedeuten, dass Netanyahu – wie schon in der Vergangenheit – auch bei seinem nächsten Versuch, eine Regierung zu bilden, erneut scheitern könnte. Würde er hingegen abtreten und den Vorsitz des Likud einem oder einer Anderen überlassen, stünde einer die beiden Blöcke überschreitenden breiten Koalition nichts im Weg.

Netanyahu aber beruft sich auf seine anhaltende Popularität. Sein Likud stellt mit bis zu 34 (von 120) Sitzen die größte Kraft. Lapid kommt auf 24 Sitze und Gantz auf nur zwölf. Um wieder an die Macht zu gelangen, scheut sich Netanyahu nicht vor einer Allianz mit dem rechtsextremen Bündnis Religiöser Zionismus, sollte ihm das eine Mehrheit verschaffen. Das Bündnis könnte mit 13 (von 120 Sitzen) zur drittstärksten Kraft werden. Besonders umstritten ist der Rechtsanwalt Itamar Ben Gvir, der bis vor kurzem noch ein Bild von Baruch Goldstein in seinem Wohnzimmer hängen hatte und sich jetzt als Geläuterter gibt. Goldstein war 1994 mit einer Schusswaffe in eine Moschee in Hebron eingedrungen und hat 28 Betende erschossen. Vor allem junge Israelis, Protestwähler und bisherige Nichtwähler wollen Ben Gvir ihre Stimme geben.

Eine Koalition mit den Rechtsextremen als Druckmittel?

Netanyahu könnte aber die Aussicht auf eine solche Koalition, die Israels Image auf der Welt beschädigen würde, auch als Droh-Argument nutzen, um seine Gegner doch noch zu überzeugen, ihren Widerstand gegen eine Regierung mit seiner Beteiligung aufzugeben. Nicht auszuschließen, wenn auch eher unwahrscheinlich, ist noch die Möglichkeit, dass das ultraorthodoxe Lager, das traditionell dem Netanyahu-Block angehört, diesmal zu einer Koalition unter Benny Gantz hinüberwechseln könnte.

Da ein knappes Rennen ansteht, könnten verlorene Stimmen für Parteien, die es nicht über die 3,25-Prozent-Hürde schaffen, entscheidend sein. Hoffnungen setzt das Lager, das eine Wiederwahl Netanyahus verhindern will, auf die Stimmen der arabisch-israelischen Wähler, die mehr als 20 Prozent der Bevölkerung stellen. Die Besonderheit an der vergangenen Regierung war die Beteiligung einer arabischen Partei unter Vorsitz von Mansour Abbas, die Vereinigte Arabische Liste. Doch droht die Wahlbeteiligung in dem arabischen Sektor bisher gering auszufallen.

Yair Lapid stellt sich zur Wahl am 01. November 2022. Seit Juli 2022 leitet er die Interimsregierung.

Yair Lapid stellt sich zur Wahl am 01. November 2022. Seit Juli 2022 leitet er die Interimsregierung.

Haim Zach/Government Press Office; CC-BY-SA-3.0; Wikimedia Commons

Innen- und außenpolitische Herausforderungen

Wie immer die Wahlen auch ausgehen werden, die nächste Regierung in Israel wird vor großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen stehen. Kommt es erneut zu einer nur knappen Mehrheit, werden Fragen nach politischer Legitimität ebenso eine Rolle spielen wie die Sorge um den Zusammenhalt einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft und die Angst vor fehlender politischer Stabilität. In einem Land, das sich von Wahlkampf zu Wahlkampf durchhangelt, ist zudem die Entscheidungskraft der Regierenden stark eingeschränkt, um notwendige langfristige Antworten auf Probleme zu finden.

Ein aktuelles Beispiel ist die Einigung der israelischen Interimsregierung mit dem Libanon, die gerade unter amerikanischer Vermittlung erreicht wurde. Obwohl sich beide Staaten nach wie vor offiziell im Kriegszustand befinden, ist es ihnen gelungen, einen langjährigen Streit über die Erschließung von Erdgasvorkommen im Mittelmeer beizulegen und eine gemeinsame Seegrenze zu bestimmen. Das Abkommen ist zwar weit entfernt von einem Friedensvertrag, schließlich vermeidet der Libanon beflissen jeden Kontakt mit Israel. Aber es könnte die Gefahr eines weiteren Krieges mit der dort vom Iran unterstützten Hizbollah verkleinern, der seit Jahren als Wolke der Bedrohung über der Region schwebt. In jedem Fall kann nun deren Anführer, Hassan Nasrallah, nicht länger Israels angeblichen „Gasraub“ als Vorwand für militärische Zusammenstöße nehmen. Oppositionschef Netanyahu hat im Wahlkampf das Thema für sich neu entdeckt, obwohl bereits während seiner Amtszeit als Premier darüber verhandelt worden war. Er unterstellte Lapid eine „historische Kapitulation“ und lehnt das Abkommen sowie das Prozedere ab, da die Entscheidungsträger nur einer Interimsregierung angehörten. Die Einigung war am 24. Oktober unterzeichnet worden, nachdem der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, dass eine Zustimmung des Kabinetts ausreiche.

Seit Mai 2020 ist der Generalleutnant und Politiker Benny Gantz israelischer Verteidigungsminister.

Seit Mai 2020 ist der Generalleutnant und Politiker Benny Gantz israelischer Verteidigungsminister.

Mark Neyman; CC-BY-SA-3.0; Wikimedia commons

Welcher Umgang mit der Palästinenserbehörde?

Unterdessen brodelt es nun schon seit Wochen erneut im Westjordanland und im arabischen Osten Jerusalems. Während das israelische Militär den Kampf gegen palästinensischen Terror fortsetzt, greifen immer mehr Palästinenser zu den Waffen. Die Gefahr einer dritten Intifada, eines weiteren Aufstands gegen Israel, ist realer denn je. Die Frage nach dem Umgang mit der palästinensischen Autonomiebehörde wird auch die nächste Regierung beschäftigen. Bisher galt die Prämisse, die palästinensische Führung sei kein Partner für Verhandlungen, weil schwach, korrupt und in der Übergangsphase zu einer jüngeren Führung anstelle der noch von PLO-Chef Arafat geprägten alten Generation. Zugleich aber profitieren die Extremisten der Hamas und des Islamischen Dschihad von der Schwäche der Autonomiebehörde, was die Lage zunehmend unberechenbarer macht.

In der vorherigen Regierung war das palästinensische Dossier weitgehend ausgeklammert worden. Die Rede war allenfalls vom „Zusammenschrumpfen“ des Konflikts gewesen. Inwieweit es nach der Wahl zu erneuten diplomatischen Vorstößen kommt, wird vom nächsten Regierungschef und dessen Koalition abhängen. In seiner jüngsten Rede vor der UNO-Generalversammlung in New York hat Yair Lapid im September erstmals wieder die Zwei-Staaten-Lösung erwähnt, die von der Tagesordnung verschwunden war.

Auch die Partei der Nationalen Einheit, angeführt von Benny Gantz, hat sich explizit auf die Fahnen geschrieben, einen binationalen Staat zu verhindern, der entstehen würde, sollte man sich nicht von den Palästinensern trennen. Allerdings, so warnte der ehemalige Generalstabschef und Parteimitglied Gadi Eisenkot in einem Interview in der Ausgabe vom 10.Oktober 2022 in Haaretz, werde „jeder jetzige Versuch zu einem dauerhaften Abkommen zu kommen, mit einer Lösung für das palästinensische Flüchtlingsproblem und der Teilung Jerusalems, zu einer Explosion und Blutvergießen führen.“ Den Spielraum zumindest dazwischen auszuloten, wäre eine Herausforderung für das Anti-Netanyahu-Lager. Sollte das Netanyahu-Lager samt Itamar Ben Gvir die Oberhand bekommen, sähe es für solche Initiativen denkbar schlecht aus.