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Regierungsbildung in Israel
Endlich eine Einigung

Nach drei Wahlen ist es Israel gelungen, den 500 Tage andauernden politischen Stillstand zu beenden. Am 17. Mai 2020 wurde eine neue Regierung vereidigt.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist es nach der dritten Wahl innerhalb eines Jahres endlich gelungen, eine Mehrheit unter den 120 Abgeordneten der Knesset hinter sich zu vereinen. Die frisch vereidigte Regierung ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Politisch sehr breit aufgestellt, aufgebläht an Posten – Kritiker bemängeln die damit verbundenen Kosten – sowie gebunden an Netanjahus Versprechen, das Amt des Regierungschefs nach 18 Monaten in Rotation an Benny Gantz zu übergeben.

Nach der dritten Wahl innerhalb eines Jahres hat Israel nun eine neue Regierung

Nach der dritten Wahl innerhalb eines Jahres hat Israel nun eine neue Regierung

© Mahmiyat.ps

Politisch breit aufgestelltes Kabinett

Die sogenannte „Notfall-Einheits-Regierung“ umfasst eine Fülle an Parteien und deckt eine ideologische Bandbreite ab, die nicht einmal im ohnehin sehr volatilen israelischen Parteiensystem vor der Corona-Krise vorhersehbar gewesen wäre. Im Zuge der Koalitionsbildung haben einige Akteure angesichts der gewaltigen medizinischen wie wirtschaftlichen Herausforderungen ihre Vorbehalte über Bord geworfen. Sie haben sich auf ein Bündnis eingelassen mit dem unter Korruptionsverdacht stehenden Netanjahu und seinem national-religiösen Parteienblock, bestehend aus Likud, den religiösen Parteien Shas und dem Vereinten Thora Judentum sowie Vertretern des rechten Parteienbündnisses Yemina.  

Benny Gantz (Blau-Weiß), der von Anhängern der Opposition als Hoffnungsträger für einen Regierungswechsel galt, war bei den jüngsten drei Wahlen stets mit dem klaren Versprechen angetreten, keine Koalition mit dem Likud einzugehen, solange gegen deren Vorsitzenden staatsanwaltlich ermittelt werde. Angesichts der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen für Israel (die Arbeitslosigkeit war von 4% auf rund 30% hochgeschnellt) hatte sich der ehemalige Generalstabschef des israelischen Militärs, Benny Gantz, verpflichtet gefühlt, das Land in dieser Krisenzeit vor einem vierten Wahlgang zu bewahren. Dabei nahm er auch das Zerbrechen seines Mitte-Rechts Parteienbündnisses Blau-Weiß in Kauf. Sein bisheriger Mitstreiter Yair Lapid löste die Verbindung seiner Partei Jesh Atid-Telem mit Blau-Weiß auf und übernimmt nun die Rolle des Oppositionsführers in der Knesset. Auch zentrale Akteure der Arbeiterpartei Awoda, die einst die größte und regierungsführende Partei in Israel war, haben sich der neuen Einheitsregierung angeschlossen. Amir Peretz und Itzik Shmuli hatten ebenfalls vor der Wahl ein Bündnis mit Netanjahu kategorisch abgelehnt, dann ihre Partei für ein Umschwenken votieren lassen. Auch Orly Levy-Abekasis von der Partei Gesher wechselte überraschend in die Regierung. Angesichts dieser im Vorfeld unerwarteten Entwicklungen, die manch enttäuschter Wähler als einen Verrat an Idealen und als Bruch von Wahlversprechen bewertete, machte sich in linksliberalen Kreisen Entsetzen bis Enttäuschung breit.

Mehr Posten und steigende Kosten

Acht der zwölf Fraktionen in der Knesset sind an der Regierung beteiligt. Die Verhandlungen über die Besetzung der Posten zogen sich über mehrere Wochen hin. Das Ergebnis ist das größte Kabinett aller Zeiten mit 36 Ministern, davon acht Frauen, sowie 16 Staatssekretärsposten. Die Portfolios einiger Ministerien wurden auf mehrere Häuser aufgeteilt. Dennoch gab es für die Likud-Partei von Netanjahu, weniger Posten als bisher. Für die Rotation im Amt des Ministerpräsidenten mussten eigene Regelungen von der Knesset verabschiedet werden. Netanjahu soll nach der Übergabe des Amtes des Ministerpräsidenten an Benny Gantz, der für die ersten 18 Monate der Regierungszeit als Verteidigungsminister fungiert, in der offiziellen Residenz wohnen bleiben. Für Benny Gantz wird eine zweite Residenz geschaffen. Der Kritik an den hohen Kosten der vergrößerten Regierung begegnete Netanjahu mit dem Argument, erneute Neuwahlen wären noch teurer gewesen.

Quelle: https://www.knesset.gov.il/govt/eng/GovtByNumber_eng.asp

Prime Minister: Benjamin Netanyahu (Likud)

Alternate Prime Minister: Benjamin Gantz (Blue and White)

Minister for Community Strengthening and Advancement: Orly Levi-Abekasis (Gesher)

Minister for Cyber and National Digital Matters: David Amsalem (Likud)

Minister of Agriculture and Rural Development: Alon Schuster (Blue and White)

Minister of Communications: Yoaz Hendel (Derech Eretz)

Minister of Construction and Housing: Yakov Litzman (United Torah Judaism)

Minister of Culture and Sport: Yehiel Tropper (Blue and White)

Minister of Defense: Benjamin Gantz (Blue and White)

Minister in the Ministry of Defense: Michael Biton (Blue and White)

Minister of Diaspora Affairs: Omer Yankelevitch (Blue and White)

Minister of Education: Yoav Gallant (Likud)

Minister of Energy: Yuval Steinitz (Likud)

Minister of Environmental Protection: Gila Gamliel (Likud)

Minister of Finance: Israel Katz (Likud)

Minister of Foreign Affairs: Gavriel Ashkenasi (Blue and White)

Minister of Health: Yuli-Yoel Edelstein (Likud)

Minister of Higher and Secondary Education and Water Resources: Zeev Elkin (Likud)

Minister of Immigration and Absorption: Penina Tamanu (Blue and White)

Minister of Intelligence: Eli Cohen (Likud)

Minister of Jerusalem Affairs and Heritage: Rafael Peretz (Yemina)

Minister of Justice: Avi Nissenkorn (Blue and White)

Minister of Labor and Social Welfare: Itzik Shmuli (Israeli Labour) 

Minister of Public Security: Amir Ohana (Likud)

Minister of Regional Cooperation: Gilad Erdan (Likud)

Minister of Religious Affairs: Yaakov Avitan (Not a Knesset member)

Minister of Science and Technology: Izhar Shay (Blue and White)

Minister of Settlement Affairs: Tzipi Hotovely (Likud)

Minister of Social Equality and Minority Affairs: Meirav Cohen (Blue and White)

Minister of Strategic Affairs: Orit Farkasch-Hacohen (Blue and White)

Minister of the Economy: Amir Peretz (Israeli Labour) 

Minister of the Interior: Aryeh Machluf Deri (Shas)

Minister of Tourism: Asaf Zamir  (Blue and White)

Minister of Transportation: Miri Regev (Likud)

Minister Without Portfolio: Tzachi Hanegbi (Likud)

Immunität für Netanjahu

Manche Kommentatoren sprechen Netanjahu „magische“ Kräfte zu, da es ihm wieder einmal gelungen sei, aus einer scheinbar ausweglosen Lage wie dem erneuten Patt bei den Knesset-Wahlen vom März 2020 als Sieger hervorzugehen. Im Vorfeld der Regierungsbildung hatte es eines höchstrichterlichen Urteils bedurft, um zu bestätigen, dass Netanjahu mit der Regierungsbildung beauftragt werden darf. Er wird sich ab dem 24. Mai vor Gericht in drei Fällen wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit verantworten müssen.

Beobachter erklärten, die Vergrößerung des Kabinetts schwäche sowohl die Rolle des Parlaments als auch der einzelnen Minister und stärke hingegen die persönliche Machtfülle Netanjahus, der eine Präsidialisierung des politischen Systems betreibe. Der Staatspräsident wird alle sieben Jahre von der Knesset gewählt und hat bisher überwiegend formale und repräsentative Aufgaben. Die Amtszeit des amtierenden Präsidenten Reuven Rivlin endet im Juli 2021. Manche Beobachter munkeln, ein Wechsel Netanjahus vom Amt des Regierungschefs zum Präsidenten könnte ein Weg sein, um ihm über längere Zeit Immunität zu gewähren.

Das Westjordanland ist von der Pandemie sehr betroffen. Viele Menschen sind dort von Armut bedroht.

Das Westjordanland ist von der Pandemie sehr betroffen. Viele Menschen sind dort von Armut bedroht.

© Mahmiyat.ps

Reaktionen auf die Annexionspläne

Inhaltlich möchte sich die neue Regierung für das erste halbe Jahr auf die Bekämpfung von Corona und der damit verbundenen wirtschaftlichen Herausforderungen beschränken. Alle weiteren Themen wurden in den Verhandlungen hintangestellt, bis auf einen Punkt, auf den Netanjahu in den Verhandlungen mit Gantz bestanden hatte: Die Annexion von jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Die Ausweitung der Souveränität auf die von Israelis bewohnten Gemeinden und Städte sei eine der obersten Prioritäten seiner fünften Amtszeit, sagte der frisch vereidigte Ministerpräsident in seiner Antrittsrede vor der Knesset.

Der von US-Präsident Trump vorgelegte Nahostplan sieht vor, dass rund 30 Prozent der Fläche des Westjordanlands und somit alle israelischen Siedlungen und das Jordantal von Israel annektiert werden können, der Rest der Fläche stünde für einen künftigen palästinensischen Staat zur Verfügung. Aktuell äußerte sich eine Sprecherin des US State Departments, die Annexion stünde Israel frei, sie solle aber im Zuge von Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern erfolgen.

Der palästinensische Ministerpräsident Mohammed Shtayyeh forderte vor UNO-Botschaftern einen Boykott Israels, sollte die Annexion vollzogen werden. Israel strebe weder eine Zwei-Staaten- noch eine Ein-Staat-Lösung an, sondern die Annexion. Präsident Mahmoud Abbas hat angesichts der Annexionspläne Vertreter von Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad aus Gaza zu einem Gespräch eingeladen. Das kann als Wunsch, Einigkeit zwischen den zerstrittenen Gruppierungen in dieser Frage zu demonstrieren, gewertet werden. Die Hamas hatte mit einem verstärkten Widerstand gegen Israel reagiert und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) aufgerufen, die Sicherheitskoordination zwischen der PA und Israel im Westjordanland aufzuheben. Am Dienstagabend (19. Mai) verkündete Präsident Abbas, die PA werde alle Verträge und Vereinbarungen mit Israel und den USA aufkündigen. Ein konkretes Datum nannte er dabei nicht. Ein solcher Schritt könnte zu einer Eskalation der Gewalt führen.

Durch die Anti-Corona-Maßnahmen leidet die Wirtschaft im Westjordanland massiv. Seit März sind Israel und das Westjordanland  für Touristen gesperrt. Je nach Wirtschaftszweig werden Einbrüche um bis zu 25 Prozent der Jahresumsätze für 2020 erwartet. Zudem ist für einen Großteil der rund 120 000 gemeldeten Berufspendler und weiteren Zehntausenden irregulären Grenzgängern die Möglichkeit, täglich in Israel oder israelischen Siedlungen zu einem weitaus höheren Gehalt zu arbeiten, durch die Corona-Schutzmaßnahmen entfallen. Auch können derzeit arabische Israelis nicht mehr ins Westjordanland zum Einkaufen oder zu Hotelaufenthalten reisen. Nach Angaben der PA droht 100 000 palästinensischen Familien bis Ende Mai die Armut. Schulen und Hochschulen werden coronabedingt bis Ende des Sommers geschlossen bleiben. Die israelische Armee fürchtet, dass durch diese Gemengelage gewaltsame Aktionen gegen Israelis massiv zunehmen könnten. In der vergangenen Woche war es angesichts des palästinensischen Gedenktags der Gründung Israels, dem Nakba (Katastrophen)-Tag, in mehreren Orten des Westjordanlands zu Ausschreitungen gekommen, bei denen ein Palästinenser und ein israelischer Soldat zu Tode kamen.

Der jordanische König Abdullah II. warnte vor einem großen Konflikt im jordanisch-israelischen Verhältnis, sollte die Annexion erfolgen. So erwäge das haschemitische Königshaus alle Optionen. Israelische Militärs äußerten Befürchtungen, unter extremen innenpolitischen Bedingungen in Jordanien drohe sogar die Auflösung des jordanisch-israelischen Friedensabkommens. So könnte das jordanische Königshaus durch von der Muslimbruderschaft organisierte Proteste massiv unter Druck geraten. Auch könnte sich die Unzufriedenheit des Volkes in dem wirtschaftlich durch die Corona-Pandemie zusätzlich stark geschwächten Land gegen Israel richten.

Ob Netanjahu bereits diesen Sommer ein positives Votum seiner Regierung für die Annexion erhalten wird, bleibt abzuwarten. In der Vereinbarung mit Benny Gantz vor der Regierungsbildung hieß es, dieser Schritt müsse in Abstimmung mit den USA und anderen internationalen Akteuren erfolgen. Auf internationaler Ebene, etwa aus Kanada und der EU, wurde bereits Kritik an den Annexionsplänen laut. Auch das deutsche Außenministerium erklärte, Grenzverschiebungen sollten nur im Einvernehmen beider Seiten erfolgen. Man setze sich für die Wiederaufnahme direkter Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern ein. Präsident Abbas hatte sich am 19. Mai zu Verhandlungen mit Israel und weiteren Parteien bereit erklärt, sofern diese auf eine Zwei-Staaten-Lösung abzielten. Auf die USA als alleiniger Vermittler werden die Palästinenser allerdings derzeit nicht setzen.

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin