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Bukarest
Das Ende gewaltfreier Demonstrationen in Rumänien?

Seit fast drei Jahren sieht man regelmäßig Bilder von zehntausenden Demonstranten, die in Rumänien für eine Änderung des althergebrachten, von Klientelismus und Einzelinteressen geprägten politischen Systems auf die Straße gehen.

Rumäniens Staatspräsident Klaus Iohannis bei der FJS-Preisverleihung der Hanns-Seidel-Stiftung am 2. Juni 2018 in München

hss

Die größte Angriffsfläche bietet hierbei aktuell die Regierung um die sozialdemokratische Partei PSD und deren Vorsitzenden Liviu Dragnea, der seit gut zwei Jahren mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, Änderungen in der Antikorruptions­gesetzgebung des Landes zu erwirken, die ihm, dem einschlägig vorbestraften Präsidenten des Abgeordnetenhauses, die Rückkehr in leitende exekutive Staatsämter ermöglichen würden.

Die Demonstranten sind kaum parteipolitisch orientiert: Insbesondere die Demonstrationen in der Hauptstadt Bukarest tragen den Charakter politischer "Happenings", zu denen sich  ganze Familien mit ihren Kindern aufmachen. Sie beklagen Missstände  wie zum Beispiel  Versäumnisse beim Brandschutz, die 2015 zur Katastrophe in der Diskothek "Colectiv" geführt hatten, demonstrieren gegen die Änderungen in der Korruptionsgesetzgebung durch die Regierung oder gegen die zu "lasche" Opposition, die dieser Regierung keine überzeugenden eigenen Positionen entgegenstellt. 

Die potentiell bedrohlichen Situationen, die durch spätabendliche Demonstrationen jeweils mehrerer 10.000 hochmotivierter Demonstranten entstehen könnten, wurden bislang sowohl von Seiten der Demonstranten, als auch der Sicherheitskräfte in bewundernswerter Weise gehandhabt. Vereinzelte Rangeleien wurden durch die Polizei schnell beendet. Der bereits angesprochene friedliche Charakter der Demonstrationen ließ größere Konflikte kaum entstehen.

Dieses friedliche und harmonische Bild verantwortungsvoller Bürgerinnen und Bürger, die ihr demokratisches Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen und dabei durch die Sicherheitskräfte flankiert werden, die oft den Eindruck erweckten, als hätten sie vollstes Verständnis für die Anliegen der Demonstranten, hat am Freitagabend (10. August 2018), einen tiefgreifenden Riss bekommen.

Die Fakten:

Für den Freitagabend war durch mehrere Organisationen der rumänischen Diaspora zu einer Demonstration gegen die Regierung aufgerufen worden. Zwischen 70.000 und 100.000 Demonstranten folgten dem Aufruf und trafen auf der Piata Victoriei vor dem Regierungssitz ein, wo sie den Abend - wie üblich fahnenschwenkend und Parolen skandierend - verbrachten. Am späten Abend versuchten einige Demonstranten die Absperrung zum Regierungssitz zu durchbrechen. Steine und Flaschen flogen durch die Luft. Die Reaktion der Gendarmerie-Einheiten erfolgte schnell und hart: Nach Wasserwerferbeschuss und massivem Tränengaseinsatz mussten hunderte Demonstranten medizinisch versorgt werden.  In zwei Fällen wurden Gendarmen, die von ihren Einheiten getrennt und durch gewaltbereite Demonstranten bedroht und geschlagen wurden, durch friedliche Demonstranten beschützt und vor Schlimmeren bewahrt werden. In anderen Aufnahmen ist erkennbar, wie Gendarmen mit Gummiknüppeln gegen mit erhobenen Händen dastehende Demonstranten vorgehen.   

Reaktionen und Hintergrund:

Bereits wenige Stunden nach dem Vorfall wurden Fragen nach der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der Gendarmerie gestellt, die je nach Funktion und politischer Orientierung unterschiedlich beantwortet werden: Präsident Iohannis verlangte Aufklärung und sprach von einem völlig unverhältnismäßigen Vorgehen der Ordnungskräfte, während Premierministerin Dancila den Einsatz verteidigte.

Schwierig gestaltet sich die Aufklärung dadurch, dass vor allem Videomaterial von verschiedenen Fernsehsendern sowie Augenzeugenberichte und selbstgedrehte Smartphone-Videos verbreitet werden, die jeweils nur schlagzeilenträchtige Momentaufnahmen liefern. Darauf sieht es so aus, als habe es bei dieser Demonstration – im Gegensatz zu früher - eine größere Menge an gewaltbereiten Randalierern gegeben.  Ob die massive Reaktion der Gendarmerie auf diese Provokationen spontan entstanden ist oder eine neue Politik der Einsatzleitung dahintersteckt, ist schwer zu beantworten.   Auch bei angemeldeten Demonstrationen ist es in Rumänien nicht üblich, dass sich Organisatoren und Sicherheitsbehörden im Vorfeld hierüber austauschen.

Vor allem aber stellt sich die Frage, wer die Provokateure gewesen sind, wenn es sie denn tatsächlich in ernstzunehmender Zahl gegeben hat. Es könnten junge, übermotivierte und politisch radikalisierte Einzeltäter gewesen sein. Diese hätten die Sicherheitskräfte wie in der Vergangenheit isolieren und verhaften müssen, und nicht stattdessen die halbe Piata Victoriei mit Tränengas einzunebeln.    

Angesichts der aufgeheizten und polarisierten Stimmung im Land gibt es aber auch Theorien, die von inszenierten Randalen sprechen, bei denen die Regierung selbst Provokateure eingeschleust hat, nachdem mit der Gendarmerie eine Absprache über massive Gegenmaßnahmen getroffen wurde.

Was wäre ein Grund für ein solches Vorgehen? Die Demonstration wurde durch die rumänische Diaspora organisiert - denselben Auslandsrumänen, die nach dem Narrativ der regierenden PSD direkt oder indirekt für den Wahlsieg von Klaus Iohannis (der in scharfer Opposition zur amtierender Regierung steht) bei der Präsidentenwahl 2015 verantwortlich seien. Jedes Mittel, diese in den Augen der "Normalbevölkerung" zu diskreditieren, wäre hierbei recht - zum Beispiel mit Fernsehaufnahmen, in denen die staatlichen Sicherheitsbehörden nur mit massivem Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern die Ordnung in der Hauptstadt wiederherstellen können.

Bezeichnend für die politische Lage vor dem Superwahljahr 2019 in Rumänien ist es, dass das gesellschaftliche Grundvertrauen zwischen Bürgern, Regierung und Staatsmacht noch weiter zu erodieren droht, falls sich Vorfälle wie die vom vergangenen Freitag wiederholen. Darüber hinaus übernimmt in knapp fünf Monaten das Land die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Ein innenpolitisch zerrissenes und polarisiertes Rumänien wird auch kaum dazu beitragen können, die Risse innerhalb der Europäischen Union zu beseitigen.

Gendarmerie in Rumänien

Die rumänische Gendarmerie ist eine paramilitärische Sicherheitsbehörde, die unabhängig und parallel zur rumänischen Polizei arbeitet.  Sie ist dem Innenminister unterstellt. Ihr Aufgabenbereich liegt insbesondere bei der Sicherung von Massenveranstaltungen  

Autor: Daniel Seiberling, Projektleiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Rumänien, der Ukraine und der Republik Moldau mit Sitz in Kiew.

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