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Europäische Union
Das britische Referendum

Am 23. Juni 2016 wird das Vereinigte Königreich über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen. Ministerpräsident David Cameron hatte im Februar die britischen Forderungen an die Adresse Brüssels in einem Sonderabkommen konkretisiert, um auf dieser Grundlage in das Referendum gehen zu können. Die Eckpunkte waren der Verzicht auf eine immer weiter gehende EU-Integration, die Ausrichtung der europäischen Politik auf De-Regulierung und Wachstum, die Stärkung des Einflusses nationaler Parlamente in der europäischen Gesetzgebung sowie die Aussetzung von Sozialleistungen für nicht-britische EU-Bürger während einer Ansparphase von vier Jahren.

 

David McAllister

David McAllister

Der Ausgang des Referendums ist offen, die Kampagne der Remain- und Leave- Befürworter ist in voller Fahrt und die Sorgen über die Ungewissheiten eines Brexit halten Europa in Atem. Auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung in Brüssel analysierte am 19. April 2016 eine hochkarätig besetzte Expertenrunde unter der Diskussionsleitung von Eoin Drea, Wirtschafsexperte beim Wilfried Martens Centre, die Stimmungslage in Großbritannien und die Beziehungen mit der EU. Prominente Redner waren der deutsch-schottische CDU-Europapolitiker David McAllister, der Londoner Europawissenschaftler Prof. Simon Hix, Vorsitzender von VoteWatch Europe, sowie Neil McMillan, Direktor beim Brüsseler Handelsverband EuroCommerce.

EU ohne UK ist wie Fish ohne Chips

David McAllister bezeichnete das Abkommen zwischen Großbritannien und der EU als vertretbares Ergebnis mit der Perspektive, das Vereinigte Königreich in der EU halten zu können. Ein starkes und aktives Europa brauche einen starken und aktiven Partner, wie ihn Brüssel mit London habe. Und umgekehrt könne auch Großbritannien ohne die EU keine globale außenpolitische Wirkung entfalten. Man sei also aufeinander angewiesen, denn die Rückkehr zu nationalstaatlichem Denken sei in der internationalen Politik keine brauchbare Option. David McAllister skizzierte die Varianten der EU-UK-Beziehungen im Falle eines EU-Austritts, die von einem norwegischen und einem Schweizer Modell über eine Zollunion und die Übernahme der WTO-Regeln bis hin zu einem noch auszuhandelnden Sonderverhältnis mit Brüssel reichten. Allen Alternativen sei gemein, dass sie mit großen Unsicherheiten verbunden seien und keine attraktiven Modelle darstellten. Die Europagegner sprächen daher bewusst nicht über den Tag X nach dem Austritt. Das EU-Referendum werde faktisch zu einem Migrationsreferendum umgemünzt und erfahre dadurch eine emotionale Note, der man mit rationalen Argumenten kaum etwas entgegensetzen könne. Die EU-Befürworter müssten daher ebenso leidenschaftlich für Europa werben und insbesondere gemeinsame Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sowie die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Europas mit voller Überzeugung betonen. Über die Möglichkeit einer verlorenen EU-Abstimmung mochte David McAllister nicht ernsthaft nachdenken, denn Europa sei für ihn ohne Großbritannien nicht vorstellbar, es sei wie Fish ohne Chips.

Simon Hix

Simon Hix

Die Wahlbeteiligung ist ein entscheidender Faktor

Die zunehmenden Abstimmungsniederlagen und die fortschreitende Marginalisierung Großbritanniens auf europäischer Ebene sind laut Simon Hix die direkte Folge davon, dass sich die britischen Europaabgeordneten von den mehrheitsentscheidenden Fraktionen der Europäischen Volkspartei, der Sozialisten und der Liberalen entfernt hätten. Zwar gebe es noch zahlreiche britische Berichterstatter im Europaparlament, deren Einfluss würde aber in London kaum wahrgenommen, weshalb sie in der britischen Europapolitik keine Rolle spielten. Auch habe die britische Regierung in den letzten Jahren immer stärker eine Politik der nationalen Interessen verfolgt, sie habe sich zusehends an innenpolitischen Motiven orientiert und dabei Sachkompromisse mit den europäischen Partnern aus den Augen verloren. Oberwasser hätten im Moment die Austrittsbefürworter, sie seien vor allem im gesellschaftlichen Wurzelfeld aktiv und profitierten von ihrer lokalen Kampagnenfähigkeit, während die EU-Befürworter sich vor allem über soziale Medien zu Wort meldeten.
Ein entscheidender Faktor am 23. Juni werde daher die Wahlbeteiligung sein: Die jüngere Generation sei eher pro-europäisch, die ältere hingegen europakritisch eingestellt. Wenn man also über die sozialen Medien mehr junge Menschen erreiche, dann könne die Wahlbeteiligung steigen und das Remain-Lager zunehmen. Eine niedrige Wahlbeteiligung deute klar auf eine Mehrheit für die Europa-Gegner hin. Insgesamt mangle es den Europa-Befürwortern an parteipolitischer Unterstützung; die traditionellen Parteien seien gespalten, landesweit auch gar nicht mehr in allen Wahlkreisen kampagnenfähig und hätten vielfach der Polemik der United Kingdom Independence Party nichts entgegenzusetzen.

Podium mit Neil McMillan, Simon Hix, David McAllister und Eoin Drea

Podium mit Neil McMillan, Simon Hix, David McAllister und Eoin Drea

Die EU ist Großbritanniens wichtigster Handelspartner

Wer den Handel mit den Commonwealth-Ländern als Alternative zum Binnenmarkt ins Spiel bringe, verzerre die Realitäten, so Neil McMillan. Polen sei für Großbritannien ein deutlich wichtiger Handelspartner als Pakistan, Italien wichtiger als Indien, Österreich wichtiger als Australien. In den verbleibenden Wochen komme es daher darauf an, den Sorgen vor unkontrollierter Migration innerhalb der EU die zahlreichen unkalkulierbaren und schwerwiegenden wirtschaftlichen Risiken im Falle eines Brexits gegenüberzustellen.

McMillan erklärte das geringe britische Europainteresse u.a. damit, dass eine Anstellung in den EU-Institutionen kein Karrieretraum mehr sei, dass man in London heute besser bezahlte Jobs fände als in Brüssel und dass es vielen Briten an der Kenntnis anderer europäischer Sprachen mangle. Man sei weitgehend desillusioniert über Europa, doch verdränge man dabei die negativen Konsequenzen eines EU-Austritts für die britische Wirtschaft. Ein positives Votum eröffne jetzt die Chance auf ein besseres, erneuertes Europa, denn auch auf dem Kontinent könne man sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass das Projekt der europäischen Integration gegenwärtig von immer mehr Bürgern in Frage gestellt werde und daher einer kräftigen Auffrischung bedürfe.

Belgien (Europa-Büro Brüssel)
Dr. Thomas Leeb
Leiter