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75 Jahre Flucht und Vertreibung
70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Am 5. August 1950 – nur fünf Jahre nach Kriegsende – wurde die Charta der deutschen Heimatvertriebenen in Stuttgart unterzeichnet. Die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs haben sich darin für Versöhnung, Frieden und für ein vereintes Europa ausgesprochen. Die Charta ist ein beeindruckendes Zeugnis humanitärer Gesinnung; ein Beispiel, das wir heute so dringend brauchen, wie damals.

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen dokumentierte vor 70 Jahren den Verzicht der Vertriebenen auf Vergeltung oder Revanche.

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen dokumentierte vor 70 Jahren den Verzicht der Vertriebenen auf Vergeltung oder Revanche.

IStock/AndreyPopov

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. In den Folgejahren wurden etwa 14 Millionen Deutsche und deutschsprachige Bewohner der Staaten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa aus ihrer Heimat vertrieben. Sie fanden unter großen Schwierigkeiten in Deutschland eine neue Heimat.

Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur ihrer Integration und zur Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten war die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen” (Charta auf Deutsch). Nur 5 Jahre nach Kriegsende – wurde sie in Stuttgart unterzeichnet. In dieser Erklärung verzichten die Heimatvertriebenen auf „Rache und Vergeltung”, unterstützen „die Schaffung eines geeinten Europas”, in dem „die Völker ohne Furcht und Zwang leben können”, und bekennen sich zur „Mitarbeit am Wiederaufbau Deutschlands und Europas”.

Videostatement des HSS-Vorsitzenden Markus Ferber, MdEP

Der HSS-Vorsitzende Markus Ferber, MdEP, würdigt die Bedeutung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen für Europa. Darin hatten vor 70 Jahren die deutschen Heimatvertriebenen erklärt, die Geschichte ruhen zu lassen und für ein geeintes Europa zu kämpfen, "in dem die Völker ohne Furcht und Zwang" zusammenleben" können.

INFO: Am 6. Juli 2020 fand in Kooperation mit Sylvia Stierstorfer, MdL, der Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene die Fachtagung „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen 75 Jahre Flucht und Vertreibung“ statt (Programm der Tagung).

Experten der Tagung waren:

  • Prof. Dr. Manfred Kittel, Universität Regensburg, von 2009 bis 2014 Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung

  • Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik, Zeitzeuge, Politikwissenschaftler, ehem. Vizechef des Bundeskanzleramts, ehem. Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wirtschaftsmanager

Moderierte wurde die Tagung von:

  • Andreas Bachmann, Moderator und Redakteur des Bayerischen Rundfunks

Die Fachtagung fand Corona-bedingt ohne Publikum statt und wurde aufgezeichnet:

 

Die Fachtagung fand Corona-bedingt ohne Publikum statt und wurde aufgezeichnet.

Die Fachtagung fand Corona-bedingt ohne Publikum statt und wurde aufgezeichnet.

„Die Charta ist ein beispielloses Zeichen menschlicher Größe und Lernfähigkeit“, so die Worte von Stefanie von Winnning, stellvertretende Generalsekretärin der Hanns-Seidel-Stiftung. Nicht der Wunsch nach Revanche oder ein Gefühl der Bedrücktheit bestimmen die Charta, sondern Zukunftsgewandtheit, Menschlichkeit und der Glaube an Europa. Das Dokument mahnt, aus der Geschichte zu lernen. Die Hanns-Seidel-Stiftung pflege auch vor diesem Hintergrund enge Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Ländern, so von Winning.

Sylvia Stierstorfer, MdL, Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene betonte, dass die Charta dem Revanchismus in Europa einen Schlussstrich gesetzt habe. „Die Heimatvertriebenen waren ihrer Zeit damit weit voraus – und sind es bis heute. Denn schon damals haben sie auf Europa als Lösung gesetzt. Würden heute alle Europäer so denken wie die Vertriebenen 1950, wäre vieles einfacher“, so Stierstorfer, deren Großeltern ebenfalls Heimatvertriebene waren.

Auch für Prof. Dr. Manfred Kittel war das Entscheidende an der Charta, in einem neuen europäischen Geist auf Gewalt zu verzichten: „In der Weltgeschichte ist kaum ein Gebietsverlust – noch dazu dieser Größenordnung – friedlicher und demokratischer bewältigt worden als der des ehemalig deutschen Ostens 1949. Und auch in dieser Hinsicht war die Vertriebenenintegration in Deutschland ein singuläres Geschehen“. Auf die Kritik, dass in der Charta die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg nicht klarer und deutlicher zur Sprache komme, antwortete er: „Ich finde, das ist eine reichlich akademische Kritik an einer Opfergruppe, deren zutiefst traumatisierende Erfahrungen maximal 5 Jahre zurücklagen.“

Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik war als Zeitzeuge geladen. Er wurde 1940 in Klantendorf/Nordmähren, (heute Kujavy im Okres Nový Jičín, Tschechien) geboren. Als 4-Jähriger musste er mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern flüchten. Noch heute erinnert er sich an Angst, Hunger und Entbehrung, sowie an Geschützdonner, Flugzeugangriffe und Panzerkolonnen. 1946 kamen sie am Tegernsee an, sein Vater kehrte im selben Jahr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. Seine Eltern nahmen nach Ankunft in Bayern jede Arbeit an, um die Familie zu ernähren; an Rückkehr dachten sie nicht, so Teltschik. Er selbst engagierte sich schon früh in der Ackermann-Gemeinde, die ein wichtiger Impulsgeber für die Charta war.

Die Heimatvertriebenen haben mit ihrer Lebenserfahrung und ihren Kenntnissen wesentlich zur Erfolgsgeschichte Bayerns beigetragen. Das Thema Flucht und Vertreibung hat einen festen Platz in der bayerischen, deutschen und europäischen Erinnerungskultur. Doch was können wir aus der Vergangenheit über Flucht, Vertreibung, Integration und Aussöhnung lernen? Was müsste heute in einer modernen Charta der Heimatvertriebenen stehen? Für Teltschik ist die Politik der europäischen Integration heute wichtiger denn je. Er hält eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie eine gemeinsame Frieden- und Sicherheitsordnung für unabdingbar. Auch Stierstorfer betonte die wichtige Rolle Europas und dessen große Verantwortung. Kittel forderte – wie bereits die Unterzeichner der Charta – ein „Recht auf Heimat“ und die nachhaltige Bekämpfung von Fluchtursachen.

Die Charta endet mit den Worten: „Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert. Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“ – Die Charta ist damit heute aktueller denn je.

Die Highlights der Fachtagung

HSS

Vollständiger Mitschnitt der Tagung

HSS

Archiv für Christlich-Soziale Politik (ACSP), Politisch-historische Fachbibliothek
Dr. Renate Höpfinger
Leiterin