Print logo

Bernardo Arévalo gewinnt die Wahlen mit Antikorruptionswahlkampf
Guatemala wählt neuen Präsidenten

Autor: Philipp Fleischhauer

Der Außenseiter Bernardo Arévalo der Partei Semilla gewinnt mit 58% der Stimmen die Stichwahl gegen Sandra Torres (UNE - Unidad Nacional de la Esperanza) mit 37%. Bei der Abstimmung ging es weniger um eine Entscheidung zwischen links und rechts als vielmehr um einen Wandel in der politischen und gesellschaftlichen Struktur des mittelamerikanischen Landes.

Dass in der Nacht des 20. August 2023 Bernardo Arévalo, Sohn des Ex-Präsidenten Juan José Arévalo, die Wahl gewinnen würde, hätte Monate davor nicht mal die eigene Partei „Semilla“ geglaubt. Alle Vorzeichen sprachen gegen dieses Ergebnis und auch kein Demoskop hatte den Namen auf seinem Zettel.

Ruhige und geordnete Wahlgänge vor einem Wahllokal im Zentrum von Guatemala.

Ruhige und geordnete Wahlgänge vor einem Wahllokal im Zentrum von Guatemala.

©HSS

Voto nulo

Um die Umstände besser zu verstehen, muss man weit vor die erste Wahlrunde am 25. Juni 2023 zurückgehen. Bereits im Vorfeld wurde das Kandidatenfeld durch die Disqualifikation von drei aussichtsreichen Anwärtern eingeschränkt. Zunächst wurde die indigene Kandidatin Thelma Cabrera von der Linkspartei MLP (Movimiento para la Liberación de los Pueblos) aus dem Rennen genommen, weil ihr Vizepräsidentschaftskandidat, Jordán Rodas, ehemaliger Ombudsmann für Menschenrechte, wegen eines ungültigen administrativen Dokuments nicht zur Wahl zugelassen wurde.

Ein weiterer Kandidat, Roberto Arzú, wurde wegen angeblich verfrühter Wahlwerbung ausgeschlossen, und nur einen Monat vor der Wahl wurde der bis dahin führende Politiker Carlos Pineda vom Verfassungsgericht wegen Verstößen gegen das Wahlgesetz (fehlende Unterschriften von Parteidelegierten und ein fehlender finanzieller Rechenschaftsbericht) ausgeschlossen. Diese frühzeitige Ablehnung von aussichtsreichen Kandidaten durch den Wahlgerichtshof, bzw. das Verfassungsgericht, ist in Guatemala nicht neu. Die Wähler quittierten diese Entscheidungen mit einer sehr hohen Zahl ungültiger Stimmen („voto nulo“). Bei den Wahlen am 25. Juni haben mehr Menschen „voto-nulo“ gewählt als (17,4%) als die erstplatzierte Sandra Torres (15,8%).

Aber auch im neuen, nun auf 22 Kandidaten geschrumpften Teilnehmerfeld trat Arévalo nicht wirklich in Erscheinung. Zwar sahen die meisten Umfragen Sandra Torres von der Partei UNE (Unidad Nacional de la Esperanza) auf den vorderen Plätzen, aber selbst wenige Tage vor dem ersten Wahlgang beabsichtigten angeblich nur 3%, Arévalo ihre Stimme zu geben. Sein plötzlicher Anstieg in der Wählergunst kurz vor bzw. bei der Wahl ist einerseits auf die teilweise schlechten Kampagnen seiner Gegner zurückzuführen, insbesondere aber auf eine sehr gute Wahlkampfstrategie seiner Partei Semilla in den sozialen Medien, die vor allem junge Wähler anspricht. Guatemala hat mit durchschnittlich 22,9 Jahren eine sehr junge Gesamtbevölkerung. Während die meisten Kandidaten auf die traditionellen Kanäle, wie Printmedien, Flyer, Plakate, Radio oder Fernsehspots setzten, warb Semilla mit einem nur kleinen Wahlkampfbudget gezielt und kreativ in den sozialen Medien für ihren Kandidaten. Da sich die Älteren noch positiv an die Präsidentschaft von Arévalos Vater erinnerten, entstand so eine Allianz quer durch alle Altersgruppen, die sich vor allem gegen das aktuelle System aus Korruption und Nepotismus wandte.

Menschen in einer Turnhalle, die zum Wahllokal umgestaltet wurde.

Bürgerinnen und Bürger nehmen ihr Wahlrecht im Wahllokal wahr.

©HSS

Das Wahlergebnis der ersten Runde wird angezweifelt

Insgesamt verliefen die Wahlen transparent und wurden von nationalen und internationalen Wahlbeobachtern kontrolliert, die ebenfalls keinen Wahlbetrug feststellen konnten. Trotzdem: Auch nach der ersten Auszählung sollte Bernardo Arévalo und die Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin, Karin Herrera, in den Augen von Teilen des politischen Establishments nicht in die Stichwahl kommen. Verschiedene Parteien zweifelten das Ergebnis an und wähnten Wahlbetrug. Eine angeordnete Neuauszählung ergab jedoch das gleiche Ergebnis.

Da auf diesem Weg der Einzug Arévalos in die Stichwahl nicht verhindert werden konnte, wurde nun die Justiz eingeschaltet. Zunächst wurde dem Obersten Wahlgericht untersagt, das offizielle Ergebnis zu verkünden; eine Voraussetzung für die Durchführung der Stichwahl am 20. August. Dies rief sofort Reaktionen der Partei Semilla, zivilgesellschaftlicher Organisationen, aber auch der internationalen Gemeinschaft hervor, die auf die Anerkennung der demokratischen Prozesse, des Bürgerwillens und damit auf die Durchführung der Stichwahl am 20. August drängten. Sogar der Generalsekretär der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), Luis Almagro, reiste eigens nach Guatemala und setzte nachdrücklich für die Anerkennung des Wahlergebnisses ein. Zudem verlängerte er aufgrund der Ereignisse und der zu befürchtenden Entwicklungen die Wahlbeobachtungsmission der OAS bis zum 14. Januar 2024, dem Tag der Amtsübergabe. Daraufhin gab augenscheinlich die Justiz klein bei und das Wahlergebnis mit den zwei Kandidaten konnte veröffentlicht werden.

Da also auch dieser Hebel nicht funktionierte, wurde nun die Karte der Kriminalisierung von Semilla und des Wahlgerichts gespielt. Der Partei wird vorgeworfen bei ihrer Gründung im Jahr 2017 Unterschriften gefälscht zu haben. In einer medienwirksamen Aktion durchsuchten schwer bewaffnete Truppen die Räumlichkeiten von Semilla und des "Tribunal supremo electoral" (TSE) sowie untergeordneter Einrichtungen. Die Staatsanwaltschaft kündigte zudem Ermittlungen gegen Mitarbeiter und freiwillige Helfer in den Wahllokalen sowie erste Verhaftungen nach der Wahl an.

Die Wahl am 20. August und ihr Verlauf

Trotz aller Widrigkeiten verliefen am 20. August die Wahlen unter den Augen der Weltöffentlichkeit geordnet und ohne größere Zwischenfälle. Zwei Meinungsforschungsinstitute veröffentlichten noch in der Woche vor den Wahlen ihre letzten Umfragen und lagen - anders als bei der ersten Wahlrunde - diesmal richtig. Die Prognosen sagten Arévalo einen klaren Sieg vor Torres voraus.

Beim Gang durch die Räume der Wahllokale der Hauptstadt Guatemala-City hallten die Geräusche der Stimmenauszählung wie ein Echo nach: von allen Seiten war der Name Semilla zu hören als die Ergebnisse ausgerufen wurden. In der Hauptstadt erhielt Arévalo fast 80% der Stimmen. Insgesamt konnte er 17 der 22 Departementos für sich gewinnen. Torres gewann dagegen nur in den fünf überwiegend ländlichen Regionen im Norden des Landes. Nach vorläufiger Auszählung aller Stimmen kommt Bernardo Arévalo auf insgesamt 58% und Sandra Torres auf 37% der Stimmen. Das amtliche Endergebnis steht allerdings noch nicht fest und wird aufgrund noch zu klärender Anfechtungen in einigen Wahllokalen erst im Laufe der nächsten Woche offiziell bekannt gegeben. Signifikante Veränderungen sind jedoch nicht zu erwarten.   

Auch Tiefgaragen wurden zu Wahllokalen umfunktioniert.

Auch Tiefgaragen wurden zu Wahllokalen umfunktioniert.

©HSS

Der Wahlkampf

In den letzten Wochen vor der Wahl konnte Semilla mit einem sachlichen und wenig polemischen Wahlkampf unter dem Motto „Wechsel und Zukunft“ viele unentschlossene Wähler für sich gewinnen. Da die Debatte weniger von grundlegenden ideologischen Unterschieden geprägt war – beide Parteien sind, wenn überhaupt im Mitte-links-Spektrum zu verorten – konzentrierte sie sich auf einzelne polarisierende Themen.

Semilla setzte vor allem auf die Bekämpfung der überbordenden Korruption, die fast alle Sphären des Landes durchdringt, sowie auf tiefgreifende Reformen des politischen und gesellschaftlichen Systems Guatemala. Andere wichtige Eckpfeiler des Wahlprogramms sind die Verbesserung der Infrastruktur, des Gesundheitswesens, die Ankurbelung der Wirtschaft sowie die Schaffung von (formellen) Arbeitsplätzen (ca. 70% sind im informellen Sektor beschäftigt) und eine Reform des Bildungssektors. In anderen Punkten gibt es teilweise Überschneidungen mit dem Regierungsprogramm der UNE von Sandra Torres. Beide Kandidaten kündigen beispielsweise eine Verbesserung der Dienstleistungen und der prekären Sicherheitslage (Guatemala hat eine der höchsten Mordraten der Welt) an. Torres hingegen setzt, wie auch schon während ihrer Zeit als First Lady unter ihrem Ex-Mann Álvaro Colom Caballeros (2008-2012), vor allem auf Sozialprogramme, was ihr bis heute einen starken Rückhalt in der ländlichen und ärmeren Bevölkerung sichert.

Darüber hinaus versuchte UNE mit polarisierenden Punkten wie der gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung, und der Stigmatisierung von Semilla als radikal links liberale Partei, bei den Wählern zu punkten. In einem extrem konservativen Land wie Guatemala können solche Themen wahlentscheidend sein. Dies und der Schulterschluss der konservativen und evangelikalen Kräfte war der letzte Versuch von Sandra Torres, doch noch die Mehrheit der Wähler auf ihre Seite zu ziehen. Zudem ging sie bewusst jeder direkten Debatte mit dem als wenig charismatisch aber fachlich kompetent geltenden Arévalo aus dem Weg. Arévalo, von Beruf Diplomat und Soziologie, gelang es jedoch, durch gezielte direkte Kontakte mit den Wählern, auch im ländlichen Raum, dieses Image abzuschütteln.

Wichtig für den Ausgang waren u.a. die (rechts-)konservativen Wähler, deren Parteien zum ersten Mal seit langem nicht in der Stichwahl vertreten waren. Würden diese das ehemalige sozialdemokratische Feindbild, die etablierte UNE wählen oder dem Reformer und Neueinsteiger Arévalo eine Chance geben?

Die Antwort fiel eindeutig aus. Sandra Torres konnte neben ihren Stammwählern nur kleine Teile der Bevölkerung von sich überzeugen. Auch die Schmutzkampagnen gegen Arévalo und seine Partei sowie die Verfolgung durch die Justiz haben eher ihm als ihr geholfen und seinen Ruf als Hoffnungsträger gefestigt. Damit scheitert Torres nach 2015 und 2019 nun zum dritten Mal in einer Stichwahl. Ähnlich wie die peruanische Präsidententochter Keiko Fujimori, die ebenfalls dreimal scheiterte, haftet ihr nun der Ruf der ewigen Verliererin an. Dazu passt, dass die Partei bis heute das Wahlergebnis nicht anerkennt und auch nicht zu der angekündigten Pressekonferenz am Wahlabend erschien.  

Stimmabgabe am Wahltisch

Stimmabgabe am Wahltisch

©HSS

Die Nachwirkungen der Wahl

Obwohl der Wille des Volkes in der Wahlnacht eindeutig zum Ausdruck kam und die Straßen Guatemalas voller hoffnungsvoller Bürger war, ist die Zukunft ungewisser denn je. Selbst Analysten und Kenner des Landes wagen keine Prognosen. Möglich wäre ein Verbot der Partei Semilla mit einer strafrechtlichen Verfolgung und Inhaftierung Arévalos. Eine Annullierung der Partei hätte auch weitreichende Konsequenzen im Kongress. Die Abgeordneten könnten zwar ihr Mandat als eigenständige Fraktion behalten, wären aber von bestimmten Prozessen und Strukturen ausgeschlossen und damit in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.

Aber auch ein geordneter Übergang zu einer handlungsfähigen und gesellschaftlich akzeptierten Regierung scheint denkbar.

Es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass Arévalo sein Amt am 14. Januar wirklich antreten kann. Noch in der Wahlnacht gratulierte der amtierende Präsident Alejandro Giammattei und sagte seine volle Unterstützung für eine geordnete Amtsübergabe zu. Auch zahlreiche Staaten und Präsidenten (u.a. USA und Mexiko) gratulierten noch in der Wahlnacht Bernardo Arévalo zum Sieg und vereinbarten erste Themen zur gemeinsamen Zusammenarbeit.

Es wird sich zeigen, ob bestimmte Kräfte weiterhin mit allen Mitteln auf eine Fortführung der bisherigen Verhältnisse setzen oder vielleicht doch zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit sind. Die Mittel einer destruktiven Strategie sind vielfältig. Zum einen könnte mit Hilfe der Justiz weiterhin versucht werden, die Regierungsbildung zu blockieren zu verhindern. Zum anderen stellt auch die Legislative (Semilla ist in der Minderheit und hat nur 23 von 160 Sitzen im Parlament) oder die lokale Ebene (fast alle der 340 Gemeinden sind in der Hand der Opposition und Semilla stellt nur einen Bürgermeister) ein geeigneter Hebel, um die Regierbarkeit des Landes zu erschweren. Eine mehrheitsfähige Koalition im Kongress ist derzeitig auch mit einem Bündnis aller reformorientierten Parteien unwahrscheinlich, da die Oppositionsfraktionen mit ca. 100 Abgeordneten die überwiegende Mehrheit stellen.

Und auch dunkle Kräfte mischen sich weiterhin in die politische Neuordnung ein. So hat eine Richterin des Obersten Wahlgerichts inzwischen angekündigt, wegen Bedrohungen von ihrem Amt zurückzutreten.

Schwierigkeiten bei Semilla

Aber auch bei Semilla selbst könnten die Voraussetzungen für eine stabile Regierung besser sein. Die Partei ist erst 2017 gegründet worden und kam bei der Wahl 2019 nur auf 5,3%. Zudem hat Semilla noch keine Regierungserfahrung. Sie hat zudem weder das Personal noch die politischen Verbindungen, um alle wichtigen Ämter mit eigenen Leuten bzw. Vertrauten zu besetzen und kann daher nur auf ihre Erfahrungen als Oppositionspartei zurückgreifen.

In der Regierungsverantwortung zu stehen und mit allen politischen und gesellschaftlichen Akteuren zu verhandeln, ist jedoch eine ganz andere Herausforderung. Hier den Willen der Wähler widerzuspiegeln, wird trotz allen guten Absichten sehr schwierig sein. Die Realpolitik, ein auch in Lateinamerika gebräuchliches Wort, könnte trotz aller Hoffnungen schnell zur Enttäuschung der Bürger führen.

Angesichts dieses komplexen Szenarios erscheinen die Herausforderungen für Bernardo Arévalo und seine Partei Semilla schwer zu bewältigen. Zu groß sind einerseits die Hoffnungen und Erwartungen auf einen schnellen und tiefgreifenden Wandel und andererseits die vielfältigen – hausgemachten oder von außen kommenden– Stolpersteine, die eine erfolgreiche Regierung Arévalos einschränken oder unmöglich machen könnten. Dennoch bleibt zu hoffen, dass Guatemala seinen demokratischen Weg geht und damit zu einem neuen Leuchtturm für die gesamte Region werden kann.

Kontakt

Projektkoordinatorin: Maya Kleine
Lateinamerika
Projektkoordinatorin Bolivien, El Salvador, Guatemala, Kuba
Telefon: 
E-Mail: